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«Im ganzen ärmlich von der Natur ausgestattet»: Warum der Mensch Kropotkin lesen sollte

 

Klassiker wollen, nach Lessing, gefälligst «weniger erhoben und fleißiger gelesen sein». Peter (Pjotr) Kropotkins berühmtes Buch über die ‹Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt›, das als ‹Mutual Aid – A Factor of Evolution› zuerst 1902 in England erschien und in der Übersetzung von Gustav Landauer 1904 zuerst auf deutsch, ist ein Klassiker. Doch die Lektüre empfiehlt sich noch aus anderen Gründen: Man könnte bei Kropotkin auch ganz konkret nach intellektueller, geistiger Schützenhilfe suchen, wenn man sich zum Beispiel gerade sehr über die deutsche Flüchtlingspolitik ärgert, die der durchschnittliche Spießbürger in den Kommentar-Strängen des Internets mit dem Totschlagargument zu rechtfertigen pflegt: Deutschland könne nun mal nicht die Welt retten. (Die Welt: «Puh!»)

 

Nicht zuletzt ist die Lektüre aber in erkenntnistheoretischer Hinsicht interessant, denn wir lernen, was wir eigentlich schon wußten: daß der Mensch unablässig seine Metaphern, Bilder und Modelle von der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selbst verwechselt. Gern mit verheerenden Folgen.

 

Das Modell, um das es Kropotkin ging und das er mit seinem Buch zu korrigieren sich anschickte, war das der Darwinschen Theorie der Evolution durch natürliche Auslese und dem Grundprinzip des «struggle for existence». Zwar hatte Darwin mit dem «struggle» durchaus nicht ausschließlich einen Kampf mit Zähnen und Klauen gemeint (er bezog den Begriff ebenso auf die Pflanzenwelt) – aber das suggestive Bild war in der Welt und leistete einem aufkommenden Imperialismus ebenso nützliche Dienste wie pessimistischen Philosophen, die in beidem, dem Bellizismus der Nationalstaaten wie in dem «Kampf aller gegen alle», der angeblich in der Natur herrsche, nur die jeweiligen Kehrseiten derselben Medaille sahen: Der Mensch dem Menschen ein Wolf! Ein weiteres Bild spukt bis heute als Cartoon-Ikone in unseren Köpfen herum: Wir sehen einen kleinen Fisch, der von einem größeren gefressen wird, der von einem größeren gefressen wird, der von einem größeren gefressen wird. So geht es zu in der Natur, wie soll es unter Menschen anders sein!

 

Peter Kropotkin bereiste in seiner Jugend das östliche Sibirien und die nördliche Mandschurei. Er betrieb sowohl geographische wie zoologische Forschung und empfing dabei, wie er in seinem Vorwort schreibt, «zwei starke Eindrücke: Der eine war die außerordentliche Härte des Kampfes um die Existenz, den die meisten Tierarten wider eine rauhe Natur zu führen haben. Den anderen Eindruck zeitigte folgende Bemerkung: selbst an den wenigen Orten, wo das Tierleben üppig gedieh, konnte ich, obwohl ich emsig darauf achtete, nicht jenen erbitterten Kampf um die Existenzmittel zwischen Tieren, die zur gleichen Art gehören, entdecken. Und es war dieser Kampf, der seitens der meisten Darwinisten als das typische Kennzeichen des Kampfes ums Dasein und als der Hauptfaktor der Entwicklung (d. h. der Evolution; H. A.) betrachtet wurde.»

 

Er sieht stattdessen Seen mit «Myriaden von Vögeln» der verschiedensten Arten, die sich versammeln, um ihre Nachkommenschaft aufzuziehen, «wie in den Kolonien der Nagetiere»; er beobachtet Vogelwanderungen «in wahrhaft amerikanischem Ausmaße» sowie die Wanderung von Damhirschen, die sich zu Tausenden vereinen, um dem drohenden Schnee zu entfliehen und gemeinsam den Amur-Fluß an seiner schmalsten Stelle zu überqueren. «In all diesen Szenen», schreibt Kropotkin, «sah ich gegenseitige Hilfe und gegenseitige Unterstützung sich in einem Maße betätigen, daß ich in ihnen einen Faktor von größter Wichtigkeit für die Erhaltung des Lebens und jeder Spezies sowie ihrer Fortentwicklung zu ahnen begann.»

 

Kropotkin muß die Fälle von gegenseitiger Hilfe unter Tieren nicht lange suchen. Nicht nur in Notzeiten und zum Zweck der Brutaufzucht vereinigen sich Tiere, um einander Schutz zu gewähren, vielmehr ist der Schutz des Einzelwesens und seine Versorgung mit Nahrung «in sehr weiten Gebieten des Tierreiches die Regel».

 

Da es Kropotkin nicht darum geht, den «struggle for existence» zu leugnen, sondern nur seine sozialdarwinistische Reduktion auf das «survival of the fittest» ad absurdum zu führen, hat er, was die Faktenlage angeht, leichtes Spiel. Schon Darwin hatte darauf hingewiesen – nicht in der ‹Entstehung der Arten› (1859), sondern in der ‹Abstammung des Menschen› (1871) –, daß die «Fittesten» weder die Stärksten noch die Listigsten seien, sondern die, die gelernt hatten, sich zu verbinden, um sich gegenseitig zu unterstützen um des Wohles der Gemeinschaft willen. Am besten gediehen, so Darwin, «Gemeinschaften, die die größte Zahl aufs beste miteinander harmonierender Mitglieder umschlossen». Die russischen Darwinisten sahen das klarer als ihre britischen und deutschen Kollegen. (Sie hatten wohl einfach die bessere Natur vor der Haustür.) Kropotkin zitiert den Geographen und Zoologen N. A. Sewerzow: «Er erwähnte einige Falkenarten, ‹die für den Raub fast ideal organisiert› und dennoch im Aussterben sind, während andere Falkenarten, die die gegenseitige Hilfe praktizieren, gedeihen. ‹Man nehme andererseits›, sagte er, ‹einen geselligen Vogel, die Ente, er ist im ganzen ärmlich von der Natur ausgestattet, aber er übt gegenseitige Hilfe und verbreitet sich fast über die ganze Erde, wie man an seinen zahllosen Varietäten und Arten sehen kann.›»

 

Kropotkin war zu Anfang seiner Untersuchung von der Hypothese ausgegangen, «daß gegenseitige Hilfe ebenso ein Gesetz in der Tierwelt ist als gegenseitiger Kampf; jene aber als Entwicklungsfaktor höchstwahrscheinlich eine weit größere Bedeutung hat, insofern sie die Entfaltung solcher Gewohnheiten und Eigentümlichkeiten begünstigt, die die Erhaltung und Weiterentwicklung der Arten, zusammen mit dem größten Wohlstand und Lebensgenuss für den Einzelnen, beim geringsten Kraftaufwand, sichern» (Hervorhebung von mir). Nach vielen, zum Teil recht putzigen Beispielen von solidarischen Krabben und spielsüchtigen Hasen, Nachrichten aus dem Gesellschaftsleben der Rentiere und von Affen-Chören, kann das «höchstwahrscheinlich» getrost gestrichen werden, da, so Kropotkin, «das Gesellschaftsleben im Kampf ums Dasein – im weitesten Sinne des Wortes – die mächtigste Waffe ist».

 

Heute, im Zeitalter des Fernsehens und des Tierfilms, sind uns Bilder von gigantischen Vogelkolonien, wie sie Kropotkin in seinem Buch beschreibt, längst geläufig, «Vogelberge», mit ihrem friedlich Bei- und Miteinander von Tausenden von Tieren und zig verschiedenen Arten. Warum haben solche Bilder es nicht geschafft, das dominante Bild vom Fressen-und-gefressen-werden abzulösen? Denn wenn das Leben wirklich ein pausenloser Kampf um Ressourcen wäre, wozu gäbe es dann die sonderbare Einrichtung des Winterschlafs, mit dem das Tier einfach für eine Weile «aussteigt», wenn Ressourcenmangel droht und also Konkurrenz eintreten würde? Oder den Vogelzug? Schon Darwin hatte festgestellt, daß «eine der häufigsten Arten, durch die die natürliche Auslese wirksam ist, darin besteht, einige Individuen einer Art an eine etwas andere Lebensweise anzupassen». «Mit anderen Worten», so Kropotkin, «die Konkurrenz zu vermeiden.»

 

Ach, aber die Antwort liegt ja auf der Hand: Die Naturgeschichtsschreibung folgt in diesem Punkt der Menschheitsgeschichtsschreibung und übernimmt ihre Erzählform, die von Personifizierung und Dramatisierung lebt. Sie berichtet daher von Herrschern und ihren Schlachten, nicht vom Volk und seinem Alltag. Und noch heute, nach Erfindung der Soziologie, fällt es uns nicht leicht, nicht zu glauben, daß Politik von Einzelpersonen gemacht werde. Wir wissen es besser und werden doch das Gefühl nicht los, Menschen wie Barrack Obama oder Angela Merkel seien «mächtig» und «lenkten» die Geschicke der Menschheit (von uns) mit ihren ganz persönlichen Willensentscheidungen. Es braucht immer wieder einen bewussten Akt, sich klar zu machen, daß Menschen wie die genannten, nicht die freiesten, handlungsmächtigsten sind, sondern die unfreiesten. Im Gefüge von Beratern, Arbeitsgruppen, Gremien, Ausschüssen (die man noch als «Helfer» zusammenfassen könnte), von Verbänden, Lobbyisten, von Terminen, Protokollen, Sach- und Zugzwängen aller Art sind sie nur ein weiteres Rädchen im Getriebe, wenn auch das prominenteste.

 

Bis zur Entstehung des Promis war es allerdings ein weiter Weg für die Menschheit. Dazu brauchte es zum Beispiel erst die Abspaltung der Familie aus dem ursprünglichen Stammeszusammenhang, mit einem Pater familias, der sich zum dicken Maxe aufschwingen, der Besitz und Reichtum anhäufen und diesen vererben konnte. Die Familie aber, so Kropotkin, ist eine sehr späte Erscheinung in der Menschheitsgeschichte. Die «Wilden» (sprich: «Jäger und Sammler») lebten von vornherein in Clans, in Kleingruppen, in Gesellschaften also, die auf Formen der gegenseitigen Hilfe und Zusammenarbeit gegründet waren. Kropotkin widersprach damit entschieden einem Darwinisten wie Thomas H. Huxley, der den Urmenschen in einem «beständigen rücksichtslosen Kampf» verwickelt sah und der 1888 formulierte: «Abgesehen von den beschränkten und nur zeitweiligen Beziehungen der Familie war der Hobbessche Krieg aller gegen alle der normale Zustand zu existieren.»

Darwin selbst hingegen hatte in seiner ‹Abstammung› ganz im Sinne Kropotkins formuliert: «‹Die geringe Kraft und Schnelligkeit des Menschen›, so schrieb er» (schreibt Kropotkin) «‹sein Mangel an natürlichen Waffen usw. sind mehr als aufgewogen erstens durch seine geistigen Fähigkeiten›, die, wie er an anderer Stelle bemerkte, hauptsächlich oder gar ausschließlich zum Wohl der Gemeinschaft erlangt sind, ‹und zweitens durch seine soziale Eigenschaften, die ihn dazu brachten, seinen Mitmenschen Hilfe zu leisten und von ihnen Hilfe zu empfangen.›»

 

Auf die Zeit der «Wilden» folgte die Zeit der «Barbaren» nach alter Nomenklatur (sprich: der nomadischen Viehzüchter und Feldbauern). Die Clangesellschaften, die sich auf eine gemeinsame Abstammung berufen hatten, zerfielen. Die patriarchalische Familie kam auf. In dieser Zeit des Umbruchs erscheint eine neue Organisationsform der Kooperation – die Dorfgemeinschaft oder Markgenossenschaft (village community). Sie war ein Zusammenschluss von Familien, in denen das Individuum größere Freiheit genoss, und war «im Prinzip der Vereinigung zwischen Menschen verschiedener Abstammung nicht feindlich». Nicht gemeinsame Vorfahren bildeten den großen Zusammenhalt, sondern das gemeinsame Land, das bewirtschaftet wurde. Es gab Privateigentum, aber keinen dauerhaften Besitz am Boden. Der war «mit den Prinzipien und den religiösen Vorstellungen der Dorfmark ... unverträglich; so daß eine lange Einwirkung des römischen Rechtes und der christlichen Kirche, die bald die römischen Grundsätze akzeptierte, erforderlich war, um die Barbaren an die Idee, das Privateigentum an Grund und Boden möglich sei, zu gewöhnen». Es will eben alles gelernt sein.

 

Nach Kropotkin war es auch nicht die vermeintliche Wildheit der Barbaren, die das Aufkommen eines Militärwesens begünstigte, vielmehr kultivierten die Barbaren die Wildnis, um ackern zu können, und «überließen das ganz ungewisse Kriegshandwerk Brüderschaften, scholae oder trusts ungestümer Männer, die sich um zeitweilige Hauptleute sammelten, die hin und her wanderten und ihren Abenteuergeist, ihre Waffen und ihre Kenntnis der Kriegsführung zum Schutz der Bevölkerung anboten, die nur zu eifrig darauf bedacht waren, im Frieden zu bleiben.»

 

Als aus den Anführern der Heereszüge mächtige «Herzöge» und aus den Häuptlingen schließlich «gekrönte Häupter» geworden waren, die «eine Herrschaft der wenigen» begründeten, als die Menschen zu Leibeigenen ihrer Schutzherren geworden waren, kommt es im 12. Jahrhundert zu einer neuerlichen Organisationsform und imposanten Demonstration der «konstruktiven Kräfte der Volksmassen» mit der Gründung der mittelalterlichen freien Städte – der ersten Institution demokratischer Selbstverwaltung auf europäischem Boden seit der griechischen Antike. Kropotkin zitiert aus den Freibriefen, die in zahlreichen Abschriften kursierten und für Nachahmung sorgten. Der Freibrief von Bayonne aus dem 13. Jahrhundert stellt mal kurz klar: «Das Volk ist älter als die Herren. Das Volk, zahlreicher als alle anderen, war es, das aus Liebe zum Frieden die Herren gemacht hat, damit sie die Mächtigen in Zaum und Unterwerfung halten.» Im Freibrief von Aire in Flandern aus dem 12. Jahrhundert heißt es: «Alle, die zur Freundschaft der Stadt gehören, haben auf Treu und Eid versprochen und bekräftigt, daß sie einander in allem, was Nutzen und Ehre bringt, helfen.» Dem benediktinischen Geschichtsschreiber Guibert von Nogent gefiel das neue Kommunalwesen nicht. Er notierte: «Die Kommune ist eine Eidgenossenschaft zu gegenseitiger Hilfe (mutui adjutorii conjuratio) ... Ein neues und abscheuliches Wort. Dadurch werden die Leibeigenen (capite sensi) von aller Knechtschaft befreit; dadurch können sie für Rechtsbrüche nur zu einer gesetzliche festgelegten Geldstrafe verurteilt werden; dadurch hören sie auf, zu Leistungen verpflichtet zu sein, die die Leibeigenen immer zu leisten pflegten.»

 

Auch hier ist ein Bild zu korrigieren, das sich noch immer hält, das vom «finsteren Mittelalter» oder vom «Zeitalter der Stagnation». Kropotkin weist nicht nur auf die sozialen Errungenschaften der Städte hin, die (im Vergleich zum England des 19. Jahrhunderts) hohen Gehälter und geregelten Arbeitszeiten («Überstunden waren sehr selten»), die Einführung des Samstags als Halbfeiertag, festgelegte Badetage oder etwa die «Verordnung von Kuttenberg» (Kutná Hora), in der es unter anderem heißt: «Jedermann muß an seiner Arbeit Freude haben», sondern er betont auch den «ungeheuren Fortschritt, der in allen Künsten und Handwerken erreicht wurde». Für Kropotkin Beleg dafür, daß das System der Gilden und Zünfte «kein Hindernis für individuelle Initiative war». Nicht zufällig erreicht gerade die Architektur – «vor allem eine soziale Kunst» – die höchste Blüte: Die gotische Kathedrale und das Rathaus sind die beeindruckendsten Dokumente eines Gemeinschaftswerks von Bürgern, Symbol der Stadt und nicht eines Herrschers. Kropotkin weist noch auf eine andere Errungenschaft hin: die mehrstimmige Musik. Für gewöhnlich billigt man erst dem 15./16. Jahrhundert zu, das «Zeitalter der Polyphonie» zu sein. Tatsächlich aber datieren die ersten Experimente mit mehrstimmigen Gesängen ins 9. Jahrhundert, und im 12. Jahrhundert erlebte die Polyphonie, unter anderem mit den Werken eines Pérotin, ihre erste Hochzeit. Im 14. Jahrhundert konnten sich die Komponisten bereits von dieser nun als «Ars Antiqua» geschmähten älteren Kompositionsschule absetzen und eine avantgardistische «Ars Nova» ausrufen. Das polyphone Prinzip in der Musik (Eigenständigkeit der Stimmen durch Gegenbewegung) als Ausdruck einer protodemokratischen Gesinnung? Immerhin verurteilte Papst Johannes XXII. die Musik eines Guillaume de Machaut und forderte die Rückkehr zur gottgefälligen Einstimmigkeit.

 

Daß die freien Städte im 15. Jahrhundert dem Untergang geweiht waren, daß der Föderalismus dem Feudalismus weichen musste, war nach Kropotkin zum einen der Propaganda der «Römischrechtsgelehrten und Prälaten der Kirche» geschuldet, die es schafften, «die alte griechische Idee zu lähmen», die bei der Gründung der Städte gewaltet hatte. «Zwei- oder drei Jahrhunderte lehrten sie von der Kanzel, dem Katheder der Universität und dem Richterstuhl aus, daß das Heil in einem stark organisierten Staat, der unter einer halbgöttlichen Gewalt stehe, zu suchen sei; daß ein Mann der Lenker der Gesellschaft sein kann und muss.» Aber der eigentliche Fehler der meisten Städte war es, so Kropotkin, «ihre Macht auf Handel und Industrie zu gründen und die Landwirtschaft zu vernachlässigen». Die Bürger hatten nie in Erwägung gezogen, den Bauern gleiche Bürgerrechte einzuräumen, also denjenigen, auf deren Lebensmittellieferungen sie angewiesen waren. So wurde «das Land der Feind der Stadt». Kropotkin erweist sich als guter Systemtheoretiker, wenn er schreibt: «Der Grundgedanke der mittelalterlichen Stadt war groß, aber er war nicht umfassend genug. Gegenseitige Hilfe kann nicht auf eine kleine Vereinigung beschränkt bleiben; sie muß sich auf ihre Umgebung erstrecken, wenn nicht die Umgebung die Vereinigung aufsaugen soll.»

 

Für die nächsten Jahrhunderte war es der Staat, der die sozialen Funktionen usurpierte. Gefördert wurde damit ein «ungezügelter, geistig beschränkter Individualismus». «Das Resultat ist», so Kropotkin, «daß die Theorie, die behauptet, die Menschen könnten und müßten ihr eigenes Glück suchen, ohne sich um die Bedürfnisse anderer zu kümmern, jetzt allenthalben triumphiert ... Es ist die Religion des Tages, und an ihrer Geltung zu zweifeln, heißt ein gefährlicher Utopist sein.»

Wenn man Kropotkin folgt, dann ist die Menschheit seit einigen Jahrhunderten gezielt zum Egoismus erzogen worden, ist durch «Lehren verderbt worden, die im Interesse der Wenigen ausgebildet worden sind». Zu Zeiten des Feudalismus waren die Erfüllungsgehilfen «Römischrechtsgelehrte und Prälaten», heute sind es Wirtschaft, Politik und «Medien», die uns weismachen wollen, jeder sei, bitte schön, seines Glückes Schmied. Aber was sind ein paar Jahrhunderte gegen Jahrmillionen, in denen der Mensch wußte, dass er hilfsbedürftig ist und daß Hilfe von ihm erwartet wird, in denen er frei war von der Wahnvorstellung, «Krone der Schöpfung» zu sein – denn das wäre wohl das entscheidende Bild, das eine evolutionsbiologisch gestützte Aufklärung zurechtzurücken hätte: dass der Mensch weder zum Löwen noch zum Platzhirschen auf Erden taugt. Dafür ist er im ganzen eindeutig zu ärmlich von der Natur ausgestattet. ¶

 

‹Erschienen unter dem Titel «Survival of the Nettest» in ‹Konkret› 8/2015, mit einem Hinweis auf die im Alibri (Trotzdem) Verlag erschienene Ausgabe, mit einem Vorwort von Franz M. Wuketits, Aschaffenburg 2011.›

Ein gefährlicher Utopist: Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842 – 1921)
Ein gefährlicher Utopist: Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842 – 1921)