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«Wissenswertes über Rank»: Eine dialogische Annäherung

 

– Rank? Klingt wie eine Figur von Ror Wolf. Helfen Sie mir auf die Sprünge.

 

– Der Name ist in der Tat fiktiv, ein Künstlername, und das führt uns denn auch gleich zum Thema.

 

Geht’s in Stichworten?

 

Otto Rank. Geboren in bescheidenen Verhältnissen als Otto Rosenfeld 1884 in Wien. Ging als junger Mensch 1905 zu Freud, als Fan der frühen Werke (‹Traumdeutung›, ‹Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie›) und überreichte ihm ein 80-Seiten-Manuskript mit dem Titel ‹Der Künstler. Ansätze zu einer Sexualpsychologie›. Freud war angetan und nahm den jungen Autodidakten unter seine Fittiche. Rank wurde Freuds Sekretär und für über zwanzig Jahre sein engster Mitarbeiter und Vertrauter. Schließlich zog er sich aber den Unmut der eingeschworenen Gemeinschaft von Freuds «Wiener Psychologischen Vereinigung» zu. Man unterstellte ihm, mit seinem aktuellen Buch ‹Das Trauma der Geburt› (1924) Freuds Libido-Modell verraten und der psychoanalytischen Bewegung in den Rücken gefallen zu sein.

 

Und, waren die Anschuldigungen gegen Herrn Rank berechtigt, war er auf Vatermord aus?

 

Nicht bewußt, sozusagen. Tatsächlich hatte er im ‹Trauma der Geburt› die Rolle der Mutter in der frühkindlichen Entwicklung zur primären erklärt und die des Vaters zur sekundären.

 

Sehr gut. Dann muß man den Vater auch nicht töten. Der Alte wird einfach ins zweite Glied geschickt.

 

Die eigentliche Kritik an der Freudschen Theorie formuliert er aber gar nicht in diesem Buch, das in der «Vereinigung» so sehr für Empörung sorgte. Seine eigentliche Kritik galt Freuds gußeisernem Rationalismus. Bereits andernorts hatte er die Ansicht vertreten, daß Neurotiker niemals mit einer rationalen Analyse von irgendwas geheilt werden könnten – «weil in Ihrer Kindheit dies und das vorgefallen ist, verhalten Sie sich jetzt so und so» –, weil der Mensch eben kein rationales Wesen ist. Für Rank – und das ist der wesentliche Unterschied zu Freud, oder das Neue, das er der Freudschen Lehre hinzufügen wollte – ist der Mensch vor allem ein schöpferisches Wesen – daher sein Interesse am Thema «Künstler». Schöpferisch heißt: Für den Menschen ist nichts einfach vorhanden, sondern immer erst Resultat seiner Umformung, Gestaltung. Was die Vergangenheit angeht – die der Kindheit, aber auch die historische –, so ist sie immer nur gegeben in der jeweils gegenwärtigen Deutung, der Interpretation. Unsere Vergangenheit liegt nicht einfach da und wir schauen zurück und analysieren sie kühl distanziert, sondern das, was uns als unsere Vergangenheit erscheint, ist immer eine gegenwärtige Schöpfung dessen, was wir für unsere Lebensgeschichte halten, wir erzählen uns unser Leben und deuten uns in Geschichten.

 

Die Welt als meine Vorstellung?

 

Ganz recht, Rank bezieht sich ausdrücklich auf Schopenhauer. Und auch auf Kant und war überhaupt mit allen erkenntniskritischen Wassern gewaschen. Er war eben, anders als die übrigen Freud-Mitstreiter, kein Mediziner, sondern von Haus aus Kulturhistoriker, Literaturwissenschaftler, Philologe.

 

Das heißt, er war, solange er für Freud tätig war, der Mann fürs Geisteswissenschaftliche innerhalb der «Vereinigung»?

 

Nicht nur, er hat schließlich auch – als einer der ersten Nicht-Mediziner, auf Freuds Geheiß hin – analysiert. Aber zunächst macht er sich einen Namen als fulminanter Mythen- und Sagendeuter. Seine Bücher zu diesem Gebiet wären für jede/n Germanistik-Studenten/in eine immense Fundgrube und höchst anregende Lektüre, aber zumindest zu Zeit meines Germanistikstudiums kam Rank als Thema nicht vor.

 

Ein paar Titel, vielleicht?

 

‹Die Lohengrin-Sage. Ein Beitrag zu ihrer Motiv-Gestaltung und Deutung›, seine Dissertation – Rank hatte inzwischen, unterstützt von Freud, die Hochschulreife nachgeholt und studiert. ‹Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage› – ein hinreißender 600-Seiten-Wälzer, sein umfangreichstes Buch, geschrieben mit zweiundzwanzig. ‹Der Mythus von der Geburt des Helden› – Heros-Modelle von Sargon bis Jesus. Oder der schmale Band ‹Der Doppelgänger› – ein Hochgenuß für jeden und jede, der/die der Schauerliteratur nicht ganz gleichgültig gegenübersteht.

 

Aber er war nicht nur der Alibi-Geisteswissenschaftler unter den übrigen Medizinern, sagen Sie?

 

Nein, Freud ermunterte Rank, Patienten von ihm zu übernehmen, weil sein Terminkalender aus allen Nähten platzte, und eine eigene Praxis zu eröffnen. Auch hier geht Rank schnell eigene Wege. Aber gewiß nicht, um auf Konfrontationskurs zu Freud zu gehen. Rank hat sich zeitlebens nicht für Schulenbildung interessiert, für eine einheitliche «Bewegung», die immer dogmatisch werden muß. Er hat sich daher auch später nicht gegen die öffentliche Kritik, der er ausgesetzt war, gewehrt. Er ist lieber vorübergehend, wie sich das gehört, in Depressionen verfallen und hat die Sache mit sich selbst ausgemacht – beziehungsweise mit der Hilfe von einigen wichtigen weiblichen Verbündeten in den USA. Aber ich greife vor.

 

Wir waren bei den eigenen Wegen in Sachen Analyse-Technik.

 

Weil er nicht Freuds rationalistische Überzeugung teilte, die Ursachen für die psychischen Störungen historisch-biologisch dingfest machen zu können, sondern der Ansicht war, daß das Problem des Neurotikers immer ein gegenwärtiges ist – was ihn, den Neurotiker, ja auch jetzt, in der Gegenwart, zu dem Entschluß führt, zu einem Psychoanalytiker zu gehen, was schon ein erster bewußter Akt ist, den der Neurotiker zu seiner eigenen «Heilung» unternimmt – aus diesen und anderen Gründen stellt Rank die aktuelle Analyse-Situation in den Mittelpunkt seiner Technik. Der Analytiker ist bei ihm nicht mehr der distanzierte Forscher-Arzt, der dem Patienten am Ende den Befund mitteilt, sondern er hilft dem Patienten zu einer eigenen Deutung zu kommen, richtiger: zu einer Neudeutung, die die ältere Selbstdeutung ablöst, die offensichtlich zur Neurose geführt hat. Was auch heißt: Es gibt nicht die eine richtige Deutung, sondern immer nur eine jeweils aktuelle, und wenn sie gut ist, hilft sie, das heißt, sie macht uns – wieder – handlungsfähig.

 

Sie sagten, Schulenbildung hat ihn nicht interessiert. Ist das der Grund, warum selbst einem alten Freud-Leser wie mir nicht wenigstens der Name geläufig war?

 

Zum Teil gewiß. Er war neben Alfred Adler und C. G. Jung der dritte große eigenständige Denker der frühen Freudianer, aber er hat eben kein System errichtet wie die beiden Genannten. Rank wurde mal gefragt, ob man seine Bücher gelesen haben müsse, wenn man zu ihm in die Analyse gehe. Er hat geantwortet: «Lesen Sie sie, wenn Sie mögen, aber vergessen Sie sie, handeln Sie nicht danach. Lesen sie ‹Huckleberry Finn› – da steht alles drin.»

 

Gefällt mir. Und ‹Huckleberry Finn› war buchstäblich gemeint?

 

Mark Twain war sein Lieblingsautor: «Nur mit der Bibel und Shakespeare zu vergleichen». Als Rank später in den USA lebte, nannte er sich «Huck» und zeichnete auch so seine Briefe.

 

Wofür steht die Figur? Hat er das erklärt?

 

Nein. Er hatte nun einmal einen Hang zu Außenseiter-Figuren, zu Einzelgängern und Individualisten – zu Künstlern, Dichtern vor allem.

 

Vielleicht noch ein paar biographische Daten im Geschwindgang? Rausschmiß aus Freuds «Psychologischer Vereinigung», dann ab in die Neue Welt?

 

Nein. Nach dem endgültigen Bruch mit Freud 1926 geht es zunächst nach Paris, wo er als Analytiker arbeitet und offensichtlich gut davon leben kann. Zu seinen Patienten gehören unter anderem Henry Miller und Anaïs Nin.

 

Das war wann genau?

 

1933. Miller hatte zusammen mit Nin Ranks Spät- und Hauptwerk gelesen, ‹Kunst und Künstler›, das in den USA 1932 auf englisch erschienen war, und war hingerissen. Miller, der zu der Zeit ebenfalls in Paris lebte, suchte Rank auf, um sich von seiner «Ängstlichkeit» heilen zu lassen – aber auch um über Ranks epochales Werk zu sprechen. Beides verlief offensichtlich zur vollen Zufriedenheit des Patienten. Miller blieb nach dieser Episode weiterhin in Kontakt mit Rank, schickte ihm das Manuskript seines inzwischen fertiggestellten ‹Wendekreis des Krebses›, das Rank las und lobte.

 

Und Anaïs Nin?

 

Wurde ebenfalls seine Patientin, dann seine Geliebte und Muse.

 

Gab es auch eine Frau Rank? Ich frag nur  ...

 

Zu recht. Rank war seit 1918 mit Beata Mincer verheiratet, die ebenfalls dem engeren Freud-Kreis angehörte. In Paris kommt es zur Trennung. Sie emigriert mit der gemeinsamen Tochter ein Jahr nach ihrem Mann in die USA, nach Boston, wo sie erfolgreich als Kinderanalytikerin arbeitet. Otto lebt ab 1934 in New York, praktiziert und hält Vorträge. Vor allem an der Pennsylvania School of Social Work in Philadelphia. Dort nämlich arbeiten die zwei Frauen, die zu den bereits erwähnten Verbündeten werden sollten: Jessie Taft und Virginia Robinson.

 

Verbündete? Im Kampf gegen wen oder was?

 

Nicht vergessen: Rank war ein Abtrünniger in den Augen der «Vereinigung». Und die psychoanalytische Bewegung steckte, was ihre internationale Präsenz anging, noch immer in der Konsolidierungsphase, und dabei mußte natürlich auf die strenge Einhaltung der reinen Lehre geachtet werden. Sehen Sie sich andere Beispiele von «Bewegungen» an: Irgendwann in der Konsolidierungsphase kommt es immer zu «Säuberungen».

 

Heißt im Fall Rank?

 

Heißt: Man begnügte sich nicht damit, seine Ansichten abzulehnen, sondern der Mann sollte – man kann wohl sagen – erledigt werden.

 

So dramatisch? Wie denn?

 

In dem man zum Beispiel öffentlich äußerte, daß Otto Rank leider krank sei, geistesgestört. So wurde im übrigen auch mit dem Kollegen Sándor Ferenczi verfahren. Ein trauriges Kapitel. Schweigen wir von was anderem.

 

Jessie Taft und Virginia Robinson ...

 

... waren zwei hochinteressante Frauen – Feministinnen, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Autorinnen, homosexuell und Lebenspartnerinnen, die gemeinsam zwei adoptierte Kinder großzogen und sich unter anderem für alternative Familienmodelle wie das ihre stark machten. In der Hauptsache aber waren sie führende Mitarbeiterinnen an der erwähnten Hochschule für Sozialarbeit in Pennsylvania. Deren Ausbildung war traditionell auf das rein pragmatische «Fallmanagement» (case work) ausgerichtet. Taft und Robinson sorgten dafür, daß die Ausbildung ab den dreißiger Jahren auf eine psychologische Grundlage gestellt wurde. Taft hatte sich intensiv mit Freud und der Psychoanalyse auseinandergesetzt. 1924 hörte sie einen Vortrag von Rank und nahm Kontakt zu ihm auf. Sie wird seine Mitarbeiterin, Vertraute, Übersetzerin seiner Werke und seine erste Biographin. Fortan wird in Pennsylvania Rank gelehrt, nicht Freud.

 

Also doch Schulenbildungen.

 

Nicht im strengen Sinne. Jessie Taft entwickelte einen eigenen «funktionalen» Ansatz der Psychoanalyse, der bei Otto Rank auf Skepsis stieß, aber natürlich nicht von ihm «bekämpft» wurde. Entscheidend ist, daß es bis in die achtziger Jahren in Philadelphia, Pennsylvania, eine lebendige Rank-Tradition gab. In Deutschland war er unterdessen fast vollständig in Vergessenheit geraten.

 

Sie nannten das Buch, das Henry Miller so bezauberte – ‹Kunst und Künstler› – sein «Spätwerk». Er ist zum Schluß also wieder zum Thema seiner Jugendarbeit zurückgekehrt?

 

Er hat es nie verlassen. In allen seinen Schriften spielt der Aspekt der Schöpferkraft – für die in Freuds Theorie kein Platz war – eine zentrale Rolle. Für den Forscher Freud war bekanntlich der Neurotiker derjenige, der ihm mit seinen Zwängen, Hemmungen und Ängsten dankenswerterweise Einblick gewährte in die menschliche Psyche, wie dies die Psyche des glücklich angepaßten Durchschnittstypus so nicht ermöglichte. Für den Therapeuten Freud war der Neurotiker derjenige, der wieder auf den Pfad der Normalität zurückzuführen war. Die «Normalpsyche» war das Maß der Dinge. Rank ging den entgegengesetzten Weg. Er führt den Typus des «Künstlers» in die Psychoanalyse ein und betrachtete den Neurotiker als verhinderten Künstlertypus. Der Künstler begehrt gegen die Welt auf und schafft sich seine eigene Welt im Werk. Der Künstler rebelliert gegen die Zumutungen der Außenwelt mit einem schöpferischen Akt, der Neurotiker mit einem selbstzerstörerischen Akt.

 

Jeder Mensch ein Künstler?

 

Nein, jeder Künstler ein Mensch mit einer willensstarken Persönlichkeit. Die sich in einem Werk – das nie nur reproduziert, sondern Neues schafft – zum Ausdruck bringt und mit diesem Werk wieder auf die Gesellschaft wirkt, zur der sie, die Künstlerpersönlichkeit, ursprünglich auf Distanz gegangen war. Das sind die Vorgänge, die Rank interessieren. Das Entscheidende ist: Der Künstler schafft sich zu allererst als Künstler selbst – im Werk und praktisch schon vor dem Werk, denn am Anfang steht der zwingende Wunsch, Künstler sein zu wollen.

 

Verstehe, und das geht symbolisch gern einher mit einem nagelneuen Künstlernamen.

 

Selbstschöpfung, ja. Der Neurotiker, der wie der Künstler unter Anpassungsschwierigkeiten leidet, soll von diesem – beziehungsweisen in der Therapie – lernen, seine Persönlichkeit in ihrer Unangepaßtheit zu akzeptieren.

 

Und der Normalo bleibt wie er ist?

 

Der Normalo soll, überspitzt formuliert, erst mal eine anständige Neurose entwickeln. Rank sagt an einer Stelle: «Ich habe Neurosen gesehen, die ich viel eher als gesunde Reaktionen auf eine ungesunde Situation denn als Krankheitssymptome bezeichnen möchte. Ja, man kann vielleicht sogar die Neurose überhaupt als eine letzte Reaktion des gesunden Instinkts gegen eine sie vergewaltigende Zivilisation ansehen.» Im Grunde sagt Rank, daß der Begriff der «Normalität» in psychologischer Hinsicht ganz unbrauchbar ist. Es gibt allenfalls eine «Durchschnittsanpassung» und selbst die ist – ich zitiere – «niemals ein passives Hinnehmen des Gegebenen, sondern ein aktives Sich-Aneignen derselben für die individuellen Zwecke, ein Zueigenmachen, eine Benützung der gegebenen Realität, die therapeutisch wirkt, indem sie mit dem Ich eins wird».

 

Sehe ich das richtig, daß der gute alte Begriff der «Sublimierung» bei Rank nicht zum Tragen kommt?

 

Im Sinne von «Ersatzhandlung» muß er ihn natürlich ablehnen. Bereits im ‹Trauma der Geburt› und danach in seinen ‹Grundzügen einer Genetischen Psychologie› hat Rank deutlich gemacht, daß eine verdrängte Libido wohl kaum in der Lage wäre, Kathedralen zu bauen oder ‹Kunst der Fugen› zu komponieren und auch gar keinen Grund dazu hätte. Es ist nicht die verdrängte Sexualität, die den Menschen zur Kultur treibt – sondern die Angst, genauer: die Todesfurcht. Es ist nach Rank die kategoriell unüberwindliche Todesfurcht, die die Menschen schon immer Therapien zur ihrer Verarbeitung hat entwickeln lassen: Kultus, Religion, Kunst, Liebe (Ehe) – Rank nennt sie die «großen spontanen Psychotherapien der Menschheit».

 

Und wie helfen diese Therapieformen dem Menschen, wenn schon nicht die Todesfurcht zu überwinden, so doch mit ihr zu leben?

 

Die Religion, klar: in dem sie die unsterbliche Seele behauptet. Der Künstler: wird als Genie (römisch für «Hausgott») verehrt und ist unser säkularer Heiland, und man hat ja zu recht von einer Kunstreligion gesprochen. Die Liebe erlaubt mir im Anderen aufzugehen, und am Ende lebe ich in meinen Kindern weiter ...

 

Also ... Illusionen.

 

Kulturelle Schöpfungen! Die der Mensch immer für gefundene Wahrheiten hält. Die er – notorisch kritisch, wie er ist – früher oder später in der Tat als Illusionen durchschaut, an die er sich dann noch lange verzweifelt klammert, bis der Zustand unhaltbar wird und die nächste revolutionäre Wahrheit gefunden, heißt: erfunden wird.

 

Kein Ausweg möglich?

 

Eines der stärksten Kapitel in dem an starken Kapiteln nicht armen ‹Kunst und Künstler› beschäftigt sich mit dem Thema «Mikrokosmos und Makrokosmos» und schildert, wie der Mensch immer die Projektion ins All, in den Himmel brauchte, um sich über sich selbst im Klaren zu werden, er erfindet einen Schöpfergott und meint doch nur sich selbst, den schöpferischen Menschen. Rank formuliert am Ende seines Buches die vage Hoffnung, daß der Mensch eines Tages auf diesen Umweg verzichten und «seinen Schaffensdrang direkt in den Dienst der eigenen Persönlichkeitsgestaltung stellen kann». Aber für Prophetie ist der Autor natürlich nicht zuständig.

 

Der Autor war bei Erscheinen des Buches, wenn ich richtig rechne, achtundvierzig. Was kam danach?

 

Rank hatte bis zu diesem Zeitpunkt praktisch pausenlos geschrieben und eine immense Fülle an Publikationen vorgelegt. In ‹Kunst und Künstler› hatte er sein großes Thema noch einmal in einer enzyklopädischen Gesamtschau zusammengefaßt. Rank wollte kürzer treten, sich anderen Dingen zuwenden, den Freunden, den Menschen. Er praktizierte nach wie vor und hielt Vorträge, half Jessie Taft bei der Übersetzung seiner Werke. Ende der Dreißiger arbeitete er dann auch wieder an einem Buch, das – sein einziges auf englisch geschriebenes – bezeichnenderweise ‹Beyond Psychology› heißen sollte. Er konnte es nicht mehr vollenden. Otto Rank starb 1939 ganz unerwartet an einer Racheninfektion.

 

Nachruhm?

 

In den USA – anders als in Deutschland – beziehen sich viele auf ihn, Psychologen, Psychiater, Schriftsteller, bildende Künstler. Doch sein Ruhm ist auch dort nicht groß genug, um zu verhindern, daß sein Werk «von vielen als Steinbruch genutzt wurde, aus dem sie das Material für ihre Neubauten geholt haben, ohne den Fundort anzugeben», wie es Bertram Müller formulierte, Mitherausgeber der Ausgabe von ‹Kunst und Künstler›, die 2000 im Psychosozial-Verlag in Gießen erschienen ist. Es ist die Erstausgabe des deutschsprachigen Originals – siebzig Jahre nach der Niederschrift. Habent wahrhaftig sua fata libelli.

 

‹Erschienen in ‹Konkret› 10/2016. Näheres und weiteres zu Otto Rank siehe: «Exzerpte & Explorationen».›

 

 

Otto Rank (li.) im Kreis der Familie: Sigmund Freud, Karl Abraham, Max Eitingon, Sándor Ferenczi, Ernest Jones, Hanns Sachs (1922).