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Die unbemerkte Spitzenleistung: Alle Achttausender erklimmen und keinem davon erzählen. ¶

 

Kitsch-Romane: Scheinprobleme fiebern ihrer Scheinlösung entgegen. ¶

 

Hingeschriebener Zorn ist schon unechter, unaufrichtiger, künstlicher Zorn. Man kann sich das Hinschreiben im Grunde bereits sparen. Oder den Text bewußt gestalten – als Satire, die dann als Literatur rezipiert werden will. ¶

 

Ausgerechnet «Empörung» von den Menschen zu fordern, heißt genau die falsche Reaktion hervorrufen zu wollen. Alle empören sich ständig. Es ist der Ersatz für Kritik, das kurze Aufbäumen vor dem Verdrängen. Kritik (vernünftiges Sprechen) hat die Empörung längst hinter sich gelassen. (Wenn man Stéphane Hassel im Fernsehen im Interview allerdings gesehen hat, hat man eher einen echten Kritiker gesehen, keinen „Empörten“. Er lächelt, möchte verstanden werden. Der Titel war höchstwahrscheinlich ja nur Verlagsstrategie.)

 

Der Roman setzt eine zur Prosa geordnete Welt voraus, das Fernsehen eine zum Fernsehformat geordnete. ¶

 

Die meisten Menschen denken zweifellos in fast allem in einem Freund-Feind-Schema statt in den Radien gegenseitigen Verstehens, mit Außenbezirken des völligen Mißverstehens bis zu einem Zentrum größtmöglichen Sich-Verstehens. ¶

 

Wir haben uns die Welt seit jeher in Bildern zurechtgelegt (und in Geschichten = bewegte Bilder), haben sie immer fiktionalisiert und tun es tagtäglich. Das Gebot „Du sollst dir kein Bildnis machen“ kann man verstehen als eine Aufforderung zum Realismus. ¶

 

Daß wir nie die Zukunft vorhersehen können: Sobald wir eine Voraussage machen, haben wir die Welt bereits verändert. Die Prämisse, unter der wir unsere Voraussage gemacht haben, gilt also bereits nicht mehr. ¶

 

Komisches setzt Wiederholung voraus. Jedes «erste Mal» ist «erhaben» über das Komische, «erhaben» über den Vergleich. Denn das Komische braucht den vergleichenden Kontrast. Erst nach dem «ersten Mal» ist die Vergleichsmöglichkeit gegeben. (Eine Romeo-und-Julia-Konstellation ist immer unkomisch.) ¶

 

Die strukturalistische Literaturwissenschaft behauptet zu recht, daß das literarische Kunstwerk eine Struktur ist. Das heißt, der «Inhalt» ist nie unabhängig von der Form; jedes Element des literarischen Werks ist bedeutungstragend, weil es eine Funktion im Text erfüllt. Die strukturalistische Analyse beschreibt und erklärt, wie Literatur funktioniert. Sie hilft nicht zuletzt verstehen, wie Literatur (Kunst) nicht funktioniert, wie sie nicht verstanden werden darf: nämlich als ein «Inhalt» unabhängig von seiner Form, als eine Aussage, die man auch anders hätte sagen können. Das exemplifiziert sie an einem einzelnen Text. Dieser Text erscheint nun aber nur als eine Variation (Anwendung) der grundlegenden Strukturprinzipien, die das Literarische ausmachen. Das Besondere dieses einen speziellen Textes kann der Strukturalismus nicht zeigen. ¶

 

Der Sinn der Literatur ist die Lektüre. ¶

 

Strukturalismus: Wenn man sich nur recht klar macht, daß der einzige Sinn eines literarischen Werks, seine Lektüre ist, dann ist alles strukturalistische Analysieren gerechtfertigt. Jetzt geht es nur noch um «Teilmengen», Sub-Ebenen, wie auch immer. (Die Strukturanalyse strukturiert vor allem die Analyse, indem sie zunächst fragt, von welcher Ebene im Text reden wird eigentlich?) Strukturalismus hilft die Gedanken zu sortieren, die man aber vorher gehabt haben muß. Das Denken in Strukturen ist unumgänglich: Es ist notwendig und sinnvoll die Figurenebene von der Erzählerebene zu unterscheiden und diese von der Autorebene, und eine Autorebene 1 (der Autor als unbekanntes Wesen, das mir nur durch sein Werk begegnet) von einer Autorebene 2 (der Autor, dessen biographische Daten ich mir ranschaffen muß), und die Autor- bzw. Werkebene von einer sozialhistorischen Ebene des Kunstwerks als Beispiel seiner Gattung, was weiß ich. Aber: Der Strukturalismus kann nicht beurteilen, ob ein Buch gut ist.¶

 

Lektüre philosophischer Werke: Man übernimmt Grundgedanken, einen Sinn, nicht das System. Am Anfang war für den Autor ein Grundgedanke. Das System dient ihm nur dazu, den Gedanken ordentlich zu entwickeln. (Der «Grundgedanke» wird sich allerdings durch die Systematisierung verändern.) Der Leser übernimmt einen, mehrere Gedanken, um sie in sein Denken zu «integrieren», seinem eigenen (unausformulierten) «System» einzuverleiben. (Ein «unausformuliertes System» ist das tägliche «Reflekierenmüssen».) Nichts dümmer, als ein System auswendig zu lernen (um es zu propagieren) oder ein «System» kritisieren zu wollen. Nichts dümmer als die Bildung von «Schulen». ¶

 

Jeder muß selber denken (wie er auch selber sehen, hören, fühlen muß).¶

 

Überbleibsel aus dem ‹Helden›-Vortrag: Die Fiktionalisierung des Alltags hat mit der Erfindung des Fernsehens und durch des Internet ganz neue Dimensionen angenommen. Das Verfahren ist aber zunächst dasselbe. Jede ‹Tagesschau›-Sendung gehorcht den oben erwähnten formalen Kriterien, wählt aus einem unendlichen Weltgeschehen wenige Details aus, die nun die Fiktion «Tagesgeschehen» bilden. Wenn Monate lang nichts über den Kongo, nichts über Ruanda oder Somalia berichtet wird, dann nicht, weil dort niemand mehr Hungers stürbe oder unter Verfolgung litte oder es dazu nichts mehr zu sagen gäbe, sondern weil man Rücksicht auf den Adressaten, den Rezipienten, nimmt, der jetzt nun einmal lieber vom österreichischen Entführungsopfer hören will. Der Zuschauer will bei Laune gehalten, unterhalten werden – der Kriminalfall ist spannender als das Entwicklungsland.

 

Die Kommunikationsbeziehung von Absender und Adressat ist im Fernsehen (und war es schon im Rundfunk) gestört. Das liegt in der Natur des Massenmediums. Wenn sich die Nachrichtensendung an eine diffuse Masse richtet, kann ich persönlich nicht gemeint sein. Der praktische Zweck der notwendigen Fiktion, die Handlungsaufforderung, zielt ins Leere (gelegentliche Ablaßzahlungs-Mammutveranstaltungen für Tsunami- und andere Opfer sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen). Die einzige Handlungsaufforderung, die das Fernsehen in Zeiten der Werbeunterbrechungen noch formulieren kann, ist: Bleiben Sie dran! Der Sinn und Zweck des Fernsehens ist das Fernsehen selber.

 

Daß das Fernsehen mit der Welt nicht mehr viel zu tun hat, jedenfalls nicht mit einer Welt jenseits des Fernsehens, mag man daran erkennen, wie inzwischen sogar die Wettervorhersage wie ein spannender Fortsetzungsroman präsentiert wird, mit einem Rückblick – was bisher geschah – und einem Ausblick auf Kommendes. Als ginge es dabei um etwas, als wäre da was los! Als könnte man was verpassen! ¶

 

Es gibt keinen «funktionierenden» Kitsch. Aus der Formulierung «so herrlich kitschig» spricht nur Unverstand, nämlich die gängige Meinung, Kitsch sei an bestimmte Sujets oder Gegenstände gebunden (Liebesgeschichte mit Happy ending bei Sonnenuntergang). (Max Goldt schreibt, er kenne Menschen, die seien der Meinung: Geigen (im Film) = Kitsch.) Dabei ist Kitsch keine Frage des Gegenstands, sondern der Form. Was Richard Wagner vom «Effekt» sagt, ist zugleich Definition des Kitsches: «Wirkung ohne Ursache». Der Kitsch-Autor will Wirkungen erzielen, für die er keine Ursachen «auftreiben» kann, wie es bei Jean Paul heißt («Dichter haben oft die größten Wirkungen recht gut fertig vor sich liegen, können aber mit allem Herumlaufen keine Ursachen dazu auftreiben, keine Väter zu den Jungfernkindern»). Der Kitsch-Roman behauptet nur «Roman». Die Roman-Versatzstücke, die er rein willkürlich (bzw. außerliterarischen Bedürfnissen folgend) zusammenfügt, fahren sich unablässig gegenseitig in die Parade. ¶

 

Fiktion «Biographie»: Ritterbiographien wurden von den mittelalterlichen Turnierleitern geschrieben (irgendwo bei Wikipedia). Heiligenbiographien wurden von irgendwelchen Bischöfen geschrieben, nach dem der Kult schon Jahrhunderte alt war. ¶

 

«Dichtung ist und bleibt ein, wenn auch höherer, Schwindel. Ich lege Wert darauf, das zum ersten Mal ausgesprochen zu haben. Menschen gestalten, heißt: sie fälschen.» (Walter Serner an seinen Verleger Paul Steegemann) ¶

 

Es ist einfach zu unwahrscheinlich und paßt nur ins Bild der sattsam bekannten Selbstherrlichkeit des Menschen, der Gedanke, daß wir auf der Erde sind, um Spuren zu hinterlassen. Im Grunde verrücktes Bedürfnis. In einer in letzter Konsequenz völlig unbegreiflichen Welt, kann es nur darum gehen, in unserem bißchen Leben möglichst wenig Unheil anzurichten, möglichst keine Spuren zu hinterlassen. ¶

 

Wie klischeehaft wollen wir sein? Daß den Menschen nicht unwohl ist vor Wiederholungen, vor kopierender Nachmache – im Gegenteil! Man suhlt sich im Nachmachen, Nachplappern (Nachempfindeln). (Selbst einen Rundbrief formulier ich für jeden Adressaten leicht um.)

 

Deschner in der Neuausagabe von 1980 von ‹Kitsch, Konvention und Kunst› schreibt, daß er noch in der 1. Auflage «in schlimmer Verkennung» geglaubt habe, daß – anders als mißratene Kunstwerke – das Leben eines Menschen kein Kitsch sein könne. Leben sei schließlich nichts als Leben. – Tatsächlich aber haben wir «das Leben» ja nie als solches, immer nur in einer bestimmten Form, die der Mensch, bewußt oder (vor allem) unbewußt, wählt oder die ihm aufgezwungen wird. Diese Form fällt unter die ästhetische Kritik. ¶

 

Man müßte der Masse ein Mißtrauen am Massengeschmack einflößen. Noch so eine Unmöglichkeit.

 

Die potenzierte Ignoranz des Internets: Anfrage im Internet-Forum „gutefrage.net“ zum Thema Freundschaftsanfrage-Annehmen bei Facebook:

 

Ein person will mein freund werden und ich weiss nicht wo ich das annehmen hier finden kann. Hilft mir.

 

Antwort:

schau ma rechts da steht ne liste mit allem,da steht ganz gross Freunde,wenn da ne 1 im rotem feld steht biste richtig,aba ich frag mich was das für ne blöde frage is,manche sollten echt kein netz zugang haben,echt schlimm sowas.

Die Antwort möchte klug sein, versteht sich.

Natascha Kampusch zu Gast bei Günter Jauch, Gaswerk, Berlin (ARD, 18. 2. 2013), Glaskuppel, großes Live-Publikum. Es soll darum gehen, ob sie, gut sechs Jahre nach ihrer Entführung, inzwischen das führen kann, was man «ein normales Leben» nennen könne (s. o. s. ä. Jauch). Der heutige Tag ist ihr 25. Geburtstag! (Publikum applaudiert zum ersten Mal.) Jauch fragt sie, wie sie den Tag gefeiert hätte, wenn sie jetzt nicht bei ihm wäre. Antwort: Och, in einem intimen Freundeskreis, ganz schlicht, nichts Großes. Kurz: Sie würde womöglich ein normales Leben geführt haben, wenn das Fernsehen sich nicht vorgenommen hätte, sie daran zu hindern. 

 

Literarisches und Außerliterarisches: Was liest der Leser von «Regionalkrimis», was der Leser von buchpreisnominierten Büchern? ¶

 

Sinn und Unsinn von Interpretationen. Beispiel Kafka für die falsche allegorische Leseweise; Beispiel Flaubert u. a. für die falsche naturalistische Leseweise. Der Unsinn ist mit zwei Sätzen erklärt, da braucht man kein System: a) Hätte Kafka was anderes gemeint, hätte er was anderes geschrieben und nicht den ‹Prozeß›; und b) Literatur ist nicht natürlich, sondern immer künstlich. ¶

 

Freier Wille: Als hätte Goethe die freie Wahl gehabt! Schreib ich jetzt den Faust oder lieber einen Roman? Oder ein Gedicht? Ach, schreib ich halt den Faust! – Natürlich drängte (also zwang) ihn alles dazu, den Faust zu schreiben, und er fühlte sich nur in dieser Unfreiheit, zu diesem oder jenem Zeitpunkt nichts anderes schreiben zu können, erst wohl. ¶

 

Freier Wille? Frei von was? Von einer Motivation? Es gibt keine Handlung ohne Motivation. Außer in schlechten Romanen. ¶

 

Wenn man das Wissen um die Laboritischen (meinetwegen auch Maturana’schen etc.) «Organisationsebenen» recht verinnerlicht hat, ist für den Egoismus kein Platz mehr. Ich sorge dafür, daß es mir möglichst gut geht, indem ich dafür sorge, daß es meiner Umgebung möglichst gut geht. (Auch für den freien Willen nicht: Ich folge den zwingenden Ursachen, die ich durch vorausschauendes Denken, durch mein Wissen und meine Imaginationskraft, mit verändert, geschaffen habe.) ¶

 

Zum freien Willen hat der bekannte Philosoph Harry Rowohlt im übrigen alles nötige gesagt: «Freiheit ist nämlich, wenn man sich morgens fragt, was man wohl tun wird. – Zwang ist, wenn man es weiß.» (Wie überhaupt unsere tiefsten Weisheiten wohl in witzigen Bemerkungen am besten aufgehoben sind, wie jene bei Musil im ‹Mann ohne Eigenschaften›, wonach eine «Pfütze ... schon jedem unwillkürlich viel öfter und stärker den Eindruck der Tiefe gemacht (hat) als der Ozean».)