Blatt 14

 

Wunderkind und wunderlicher Alter

 

Vor hundert Jahren entstand die „Sphärenmusik“

des Dänen Rued Langgaard

 

Die verbürgte Anekdote geht so: 1968 traf sich in Stockholm eine Jury, bestehend aus skandinavischen Komponisten, um zeitgenössische Werke für das jährliche Festival der Nordischen Musiktage auszuwählen. Unter den Anwesenden befand sich auch György Ligeti, der Ende der Sechziger Gastprofessor an der Stockholmer Musikhochschule war. Der dänische Komponist Per Nørgård hatte eine Partitur mitgebracht, die bereits fünfzig Jahre auf dem Buckel hatte: «Sfærernes Musik» («Sphärenmusik») für Sopran, Chor, Orchester und Fernorchester, geschrieben 1918 von dem damals gerade 25jährigen Rued Langgaard, uraufgeführt 1921 in Karlsruhe, aber in Dänemark nie gespielt, wo Langgaard seit seinem Tod im Jahr 1952 längst in Vergessenheit geraten war. Nørgård plazierte die Partitur so, dass Ligeti sie unweigerlich in die Hand nehmen musste. Der Däne beobachtete, wie der berühmte Kollege zu blättern begann, erst zügig, dann immer langsamer. Schließlich fing er noch mal von vorn an, und diesmal ließ er sich Zeit, studierte jeden Takt. Schließlich erhob er sich, schlug, um Ruhe bittend, gegen sein Glas, und sprach: «Meine Herren» – Damen waren offensichtlich nicht anwesend (those were the days) – «meine Herren, ich habe gerade festgestellt, dass ich» – Blick aufs Titelblatt – «Langgaard-Epigone bin.»

 

György Ligeti hatte 1961 mit seiner Komposition «Atmosphères» einen Meilenstein in der Neuen Musik gesetzt. Das Orchesterwerk besteht ausschließlich aus Tonclustern, also «Klangflächen», statt melodisch-rhythmischen Strukturen, und Ligeti musste jetzt zur Kenntnis nehmen, dass ein unbekannter Däne diesen Vorstoß in die Moderne bereits gut vierzig Jahre vor ihm unternommen hatte.

 

Doch Rued Langgaard war ein Modernist wider Willen. Geboren 1893 in Kopenhagen als Sohn einer Pianistin und eines Komponisten und Musikphilosophen, war er das, was man ein Wunderkind zu nennen pflegt. Mit drei Jahren kann er Noten lesen. Mit fünf Jahren lernt er bei der Mutter Klavier. Mit sieben entstehen erste Klavierkompositionen. Mit elf Jahren debütiert er als virtuoser Improvisator auf der Orgel der Frederikskirke (der «Marmorkirche») in Kopenhagen. Mit 15 beginnt Langgaard mit der Komposition einer ersten Symphonie. Als das Werk nach drei Jahren intensiver Arbeit fertiggestellt ist, gilt es im Kopenhagener Konzertbetrieb als unaufführbar. Mit seinem über hundertköpfigen Orchester und einer Spieldauer von über einer Stunde sprengt es (in einem Land, in dem das elfte Gebot «Maßhalten» lautet) alle Dimensionen. Doch über seine Eltern hat Langgaard Kontakt zu den Berliner Philharmonikern. Er kann seine Partitur dem Dirigenten Arthur Nikisch zeigen, und die Reaktion ist ermutigend. Man entschließt sich, die Symphonie ins Programm zu nehmen. Im April 1913 erlebt das Werk unter Leitung von Max Fiedler seine Uraufführung. Das Berliner Publikum und die Kritik nimmt sie begeistert auf. 

 

Rued Langgard war zu diesem Zeitpunkt keine zwanzig Jahre alt. Was Ruhm und Anerkennung anging, hatte er den Gipfel seiner Karriere erreicht. Von jetzt an sollte es bergab gehen.

 

Bis 1924 entstehen in rascher Folge Langgaards wichtigste und/oder schönste Kompositionen: die symphonischen Dichtungen «Sfinx» und «Tonebilleder» («Tonbilder»), die Klaviersonate «Afgrundsmusik» («Abgrundsmusik»), die 2. Violinsonate, die «Humoreske» für Bläser und Trommel, die 4. und die 6. Symphonie, das 2. und 3. Streichquartett und nicht zuletzt die Oper «Antikrist». Aber die Werke, wenn sie denn überhaupt in Dänemark aufgeführt werden (nicht selten vom Komponisten selbst finanziert), stoßen auf Ablehnung. Man nimmt Langgaards, zugegeben, originelle Ideen zur Kenntnis, reagiert aber verständnislos angesichts der eigenwilligen Formgebung (die man für das Fehlen von Form hält). 

 

Das Wunderkindtum rächte sich jetzt: Mit seiner ersten Symphonie war Langgaard auf der Höhe der Zeit gewesen. Er hatte einfach eine Generation übersprungen und sich kühn eingereiht in die Riege der Mahler, Strauss, Glasunow und Sibelius, also der Jahrgang ’60 Geborenen. Er hatte als Jungspund Carl Nielsen die Stirn geboten, der alles dominierenden Gestalt des dänischen Musiklebens, dessen Modernität Langgaard bewunderte, dessen kühl-abgezirkelte Formgebung er indes verachtete. Doch jetzt, in den zwanziger Jahren, hatte Langgaards eigene Generation das Ruder übernommen, und die steuerte in Sachen Musik in deutlich einfacheren Fahrwassern. Seichteren, wie Langgaard zweifellos gesagt hätte. Die mit dem Ersten Weltkrieg einhergehenden weltanschaulichen und sozialen Umbrüche hatten auch das kulturelle Leben auf den Kopf gestellt. An die Musik wurden jetzt sehr konkrete Forderungen gestellt, pädagogische, politische, kommerzielle. Es war die Zeit der aufkommenden Jugendmusikschulen, der neuen Medien Radio und Grammophon.

 

Rued Langgaard war bis zu seinem Tod den musiktheoretischen Ideen seines Vaters Siegfried verpflichtet. Der hatte in seinen Schriften, in der Nachfolge von Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Albert Schweitzer und so manchem Theosofen, ein System zur geistig-kulturellen Erneuerung der Gesellschaft entwickelt. Die Musik spielte in diesem System die zentrale Rolle. Sie war der Zugang des Menschen zu den höheren Sphären, sprich: zum Göttlichen. Die Sprache der neue Sachlichkeit, wie sie sich im Neoklassizismus eines Strawinsky äußerte oder in der französischen Gruppe Les Six mit ihrer Hinwendung zu Varieté und Jazz, war für diese geradezu priesterliche Aufgabe natürlich nicht geeignet. 

 

Für Rued Langgaard war nicht die Komplexität der Feind, sondern die Unterhaltungsmusik. Die wahre Musik im Langgaardschen Sinne konnte keine Partikularinteressen gelten lassen, sie war auf Totalität bedacht. Das bedeutete im übrigen nicht, dass der Blick des Komponisten weltabgewandt ins Nichts gerichtet war, sondern im Gegenteil, die Musik sollte ausdrücklich «alles» umfassen. Langgaard spricht in seinen privaten Aufzeichnungen von einer «alle tings musik» (auf expressionistisch etwa: «Allheitsmusik»). Was dies bedeutet wird in seinem Klavierzyklus «Insektarium» von 1917 deutlich. Dort werden forficula auricularia (Gemeiner Ohrenkneifer), acridium migratorium (Wanderheuschrecke), melolontha vulgaris (Maikäfer) & Co. zu Hauptpersonen minimalistischer Charakterstücke. Mit seinen Spielanweisungen, direkt die Saiten des Klaviers zu zupfen und den Deckel als Perkussionsinstrument zu verwenden, ist es eines von Langgaards avanciertesten Kompositionen.

 

Nach über zehnjährigem zähen Ringen um Anerkennung im eigenen Land (oder wenigstens um eine Stellung als Organist in einer der größeren Kirchen) war die Talsohle erreicht. Der ohnehin psychisch nicht sehr stabile Mann macht eine Krise durch, die ihn an allem zweifeln lässt, nicht nur an der Welt um ihn herum, sondern auch an der eigenen Musik. Spätestens mit dem 3. Streichquartett von 1924, so glaubt er, ist er zu weit gegangen. Für die «wahre Musik» kann es keine Zukunft geben, also gibt es nur eine Möglichkeit – zurück zu den Quellen: zu Niels W. Gade und zu Robert Schumann (dem Langgaard sich nicht nur musikalisch verbunden fühlt: Bereits 1915 hatte eine psychische Krise Langgaard ins Sanatorium geführt, zeitlebens fürchtete er wie Schumann in der Irrenanstalt zu enden).

 

Langgaard vollführt eine Kehrtwende um 180 Grad und komponiert ab sofort nur noch in der Tonsprache des 19. Jahrhunderts. Als Komponist ist er gescheitert, als Mensch ein Kuriosum im Stadtbild Kopenhagens. Man sieht ihn regelmäßig durch die Straßen laufen mit zu kurzen Hosen und zu langen Haaren und sonderbar damenhaften Schuhen. 

 

1940 erhält er doch noch die lang gesuchte Organistenstelle – vermutlich hinter seinem Rücken vermittelt durch Komponistenkollegen, die das Elend nicht mehr mit ansehen können. Sie führt ihn – und seine Ehefrau, ohne die er nicht überlebt hätte – ins süd-jütländische Ribe, das Langgaard gern auch „Ribäh!“ nennt. Er fühlt sich abgeschoben und ist es auch.

 

1944 kommt es noch einmal zu einem produktiven Raptus. Langgaard ist wieder inspiriert und notiert, was ihm durch den Kopf geht, ohne Rücksicht auf Verluste. Er schreibt seine 11. Sinfonie. Sie beginnt schwungvoll optimistisch wie nur je ein effektvolles Richard-Strauss-Motiv im 6/4-Takt. Schwingt sich flott in die Höhe und bleibt unvermittelt auf einem Septakkord stehen – einem sehr langen Septakkord. Tusch, wildes Geigengejubel, es will und will nicht aufhören, eine chromatisch absteigende Bläserfigur kündigt Großes an. Doch dann beginnt das Ganze wieder von vorn. Insgesamt zwölfmal. Es folgt eine ekstatische Coda, und die sechseinhalbminütige «Symphonie» ist zu Ende. Ist Langgaard jetzt völlig verrückt geworden? Erst ein zweiter Blick, ein genaueres Hinhören lässt erkennen, wie komplex das Stück aufgebaut ist. Es moduliert fast unbemerkt, kämpft sich von F-Dur über Fis-Dur, As-Dur, G-Dur und A-Dur hoch, um am Ende wieder nach F zurückzufallen. Von «Sisyphos» spricht Langgaard im Zusammenhang mit der Symphonie. Das wird das Thema seiner letzten Jahre bleiben, das eigene vergebliche Ringen mit der Musik und seiner absurden Situation als Komponist in einer Zeit extremer Umbrüche. Seine 12. Symphonie von 1946 ist fast ebenso kurz. Ans Ende der Partitur schreibt er: «Meine 1. Symphonie noch einmal komponiert in konzentrierter Form! ... Rued Langgaard, fünfzehnjährig».

 

Wenn dies musikalische Späße sind, dann nimmt der Komponist sie sehr ernst. Und wie in seiner früheren produktiven Phase stößt er auch jetzt, auf dem Weg der (Selbst-)Parodie, gewissermaßen ungewollt in neue musikalische Welten vor. Er schafft Werke, die mit den herkömmlichen Analysemitteln nicht recht in den Griff zu bekommen sind, für die erst später Hilfsbegriffe wie «Konzeptkunst» oder «Postmodernität» bereitgestellt wurden. Hierher gehören unter anderem die Werke für Chor und Orchester von 1948: «Res absùrda!?» und «Carl Nielsen, vor store Komponist» («Carl Nielsen, unser großer Komponist»). Letzteres ist 32 Takte lang. Der vollständige Gesangstext besteht aus den fünf Wörtern des Titels, und die Spielanweisung lautet: «Zu wiederholen bis in alle Ewigkeit.» Heutige Plattenaufnahmen pflegen kleinmütig irgendwann bei Minute acht auszublenden. 

 

 ‹Erschienen in: Konkret, 12/2018.›

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wunderjugendlicher: Langgaard, 24-jährig ...


… und mit zu kurzen Hosen und zu langen Haaren in Kopenhagen, 1932.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

‹Fotos freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Bent Viinholt Nielsen, Herausgeber der Langgaard Werkausgabe und Autor der Biographie: Den ekstatiske outsider – Rued Langgaards liv og musik, Klampenborg: Engstrøm & Sødrings Musikforlag 2012.›