Blatt 11

 

 

«Du brauchst nicht zu lachen. Ich bin nicht fromm; ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!»

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

 

«Alle Beteiligten strampelten ausweglos in den Paradoxien ihrer Gottesidee.»

Ulrich Holbein, Ich ging ohne mich zu Gott – Lebensbilder komischer Derwische

 

 

 

Da wir nichts erkennen können außer Veränderung (keinen Zustand, der ein Stillstand wäre; und damit kein «Sein»; keine Ursache, also keine «erste Sache»; keine endgültige Wirkung, die wiederum ein Zustand, ein Sein wäre), da für uns alles Entwicklung ist – war die Evolutionstheorie so was wie eine offene Tür, die schließlich eingerannt wurde. (Und sie ist natürlich nur wieder eine Beschreibung unserer conditio, nicht ihre Erklärung.)

 

Wie selbstverständlich wir davon ausgehen, daß es das Mittelalter wirklich gegeben hat. Die Menschen des 7. bis 14. Jahrhunderts haben davon jedenfalls nichts mitbekommen. ¶

 

Wie uns unsere Nomen zu Wesenheiten werden: Natürlich wissen wir, daß Begriffe wie Barock, Klassik, Romantik «falsch» sind bzw. wir wissen, wie sie entstanden sind, und dennoch hat man das Gefühl, es gäbe etwas wie eine «Klassik» (in der Musikgeschichte), das wesensmäßig von «Barockmusik» unterschieden ist. Wir machen uns sofort ein Bild (Verstoß gegen Gebot 2), sehen es praktisch vor uns. Dito: Alte Musik, Neue Musik. Es klappt einfach. Die Begriffe sind in Ordnung als Hilfskonstruktionen. Man darf nur nicht die Hilfskonstruktion unter die Lupe nehmen und «definieren» wollen. Sie sind nur jeweils der Kreis, in dessen Mittelpunkt unser eigentliches Thema erscheint (z. B. Beethoven im «Kreis» «Wiener Klassik»), der Rand des «Kreises» ist notwendig diffus: Nie wird man eine Definition von «Klassik» formulieren können. Und so ist es mit all unseren «Begrifflichkeiten», «Nomen» für «Mengen», inklusive dem Nomen «Gott» für das, was das «Universum» beinhalten soll als Menge. ¶

 

Gerade ist ein Buch erschienen, das vorschlägt, auf den fragwürdigen Begriff «Mittelalter» ganz zu verzichten und die «Neuzeit» (die aber so heißen soll) erst 1800 anfangen zu lassen. Alles sträubt sich dagegen. Es klingt wie verkehrte Welt. ¶

 

Wie wir bloße Tendenzen immer gleich für Gesetzmäßigkeiten halten: Man komponiert spätestens seit den siebziger Jahren überwiegend nicht mehr seriell. Wir denken: Man kann das unmöglich noch tun. Es ist jetzt regelrecht verboten. ¶

 

Das Leben als Abenteuer- und Jugendroman bzw. als dessen Verfilmung: mit gemütlichen Verwicklungen, kernigen Dialogen, tollen Landschaften und stimmungsvoller Musik. ¶

 

Die Menschen ziehen nicht für das handgreifliche Öl in den Krieg, sondern für abstrakte Begrifflichkeiten wie «Demokratie» und «Freiheit» und «Menschenrechte». ¶

 

«Bildgebendes Verfahren»: gutes Wort, denn der «Anblick» ist ja nicht einfach gegeben. Man müßte vom «sinngebenden Verfahren» im Zusammenhang mit «Sprache» reden. (Sprechen als «sinngebendes Verfahren».) ¶

 

Man könnte meinen, der Kulturschock, den sog. Naturvölker erlebt haben, als sie plötzlich und unerwartet mit der fortschrittlichen Technologie der industrialisierten Welt konfrontiert wurden, muß total gewesen sein und konnte nur zu einer Überforderung führen. Doch leben wir denn in einem anderen «Zustand»? Auch in den Industrienationen wurden die Menschen mit Neuerungen konfrontiert, die über ihren Horizont hinausgingen und ungläubiges Staunen und Bestürzung auslösten: von der Höllenmaschine Eisenbahn, übers Fotografiertwerden bis zum Telefon. Lauter Unerklärlichkeiten. Wie schnell wird die moderne Technik aber dann für selbstverständlich gehalten? Und wie bleibt doch alles ganz rätselhaft und «zu hoch» für unseren Alltagsverstand? Wer kann begreifen, daß die komplexen Klänge eines Orchesters so vollkommen in der Rille einer Vinylplatte «eingefangen» werden können? Eher wollen wir dies schon der CD zutrauen mit ihrer magischen Laser-Abtastvorrichtung, aber das Unerklärliche bleibt bestehen. Völlig unerklärlich ist mir, wie Computerfestplatten «speichern», wie das Internet (oder wer das tut) mir in Sekundenschnelle gespeicherte Informationen von der anderen Seite der Welt übermittelt.

Ich bin ein «Wilder» im Technologiezeitalter – aber ich versinke nicht in Ehrfurcht oder habe das Gefühl in einer magischen Welt zu leben. Ich benutze das Internet wie vorher das Telefon, wie man davor Briefe zum Informationsaustausch verwendet hat oder welches Kommunikationssystem gerade installiert war. Die Wunder werden profan, banal.

Nicht anders wird es den «Naturvölkern» ergangen sein, als sie sich erst einmal an den Gedanken gewöhnt hatten, daß die weißen Kolonialherren keine vorübergehende Erscheinung waren, sondern dauerhaft. Und auch schon vorher hat man ohne Bedenken die Feuerwaffen der Weißen verwendet, um wie seit Urzeiten auf Menschenjagd zu gehen.

(Am Anfang sah es so aus, als wären immerhin unsere Senioren von den neuen Technologien, von Computern, Handys, Smartphones etc., überfordert und würden «abgehängt» werden. Aber nichts da!) ¶

 

Religion ist nicht der Gegensatz zur Wissenschaft, sondern ist nur veraltete Wissenschaft. Die Magie der «Naturvölker» war ihre «Wissenschaftstheorie» – ihre Theorie von einer möglichen Beherrschung der Welt. ¶

 

Man fragt sich, warum haben die klugen Mystiker, die würdigen Vorläufer unserer neuzeitlich-modernen Skeptiker und Erkenntniskritiker, die Gottes-Hypothese nicht einfach weggelassen? Wohl weil sie sie nicht als Hypothese empfunden haben. Warum geben wir nicht einfach die Hypothese von unserem Gott Mammon auf? Wir glauben, es sei keine Hypothese. Wir können uns nicht vorstellen, ohne Geld zu leben, ohne Kapital zu wirtschaften. ¶

 

Was mir an der Gottesvorstellung schon immer gefallen und unmittelbar eingeleuchtet hat: daß es eine unerkennbare Sphäre gibt, ein unerklärbares Geheimnis, das dem Menschen immer versagt bzw. unerreichbar ist. Sie nennen es «Gott», und wer «Gott» «schaut», stirbt zwangsläufig. Das Geheimnis gibt es natürlich. Unsere ganze Forschung arbeitet sich nach wie vor daran ab, Natur- wie Geisteswissenschaft. Und jetzt ich hier. Daß das ein «Gottgeheimnis» sein soll, habe ich nie geglaubt, aber ein Weltgeheimnis. Heute würde ich eher vom «Menschengeheimnis» sprechen. Es ist die Kehrseite der Medaille. Wir sind Teil des Weltgeheimnisses, scheitern aber schon am Menschengeheimnis. Jede Aussage, was die Welt sei, muß ergänzt werden um die Worte: «für den Menschen». Die Welt ist ein Geheimnis? Nur für den Menschen. (Das ist die Hybris des Menschen, wenn er glaubt, am Weltgeheimnis zu arbeiten.) ¶

 

Der Monotheismus war ein riesiger Gedankenschritt, weg vom blöden Manichäismus mit seinem Schema «hell-dunkel», «gut-böse», «Freund-Feind». Es ist die wichtige Erkenntnis, daß wir das Leben nur in Graustufen haben oder schöner: «im farbigen Abglanz». Manichäismus ist was für die Fundamentalisten à la Bush und Bin Laden. ¶

 

Der Ausdruck von der «Liebe Gottes» besagt: Es gibt nicht zwei Lager, die Guten und die Bösen, sondern vor Gott sind alle gleich (heißt: wirklich alle Menschen sind gleich). Jeder Mensch mit seiner Eigenliebe, seinem Liebe-Bedürfnis gleicht dem Nebenmenschen in diesem Punkt. ¶

 

Der Monotheismus des (frühen) Judentums war allerdings noch gar nicht der abstrakt-theoretische spätere Monotheismus: sondern Jahwe war einer von vielen, sollte aber der Beste von allen sein. Am Anfang war offensichtlich noch pluralistisches Konkurrenzieren. ¶

 

Wie lange noch die moderne Philosophie an einem Gott festgehalten hat, immer neue, verdrehtere Theorien aufgestellt hat, um ihn zu beweisen, zu legitimieren. Monismus! Ich kapier es nicht. Wie kann man sich da wundern, daß im Mittelalter das nicht geschafft wurde, was bei uns Leute wie Einstein nicht geschafft haben. ¶

 

In all den theologischen Überlegungen könnte man «Gott» durch »Kosmos», «Universum» etc. ersetzen. Aber dann doch nicht: Der Mensch will Personifizieren. Er will nicht bloß «Staat» denken, sondern «Vater Staat». Bei all den theologischen Überlegungen geht es im Grunde genau um dieses Personifizierungsbedürfnis (Identifikation, Übertragung, Projektion etc.), die Fixierung des Psychischen an einen höchsten Punkt, Entäußerung des Seelischen. Nicht um das «All» in einem wissenschaftlichen Sinn. (Das Weltall im wissenschaftlichen Sinn ist wieder nur ein «Raum», der Weltraum für Astronauten.) (Und dann wurde es kompliziert: Man wollte den Trick nicht als Trick gelten lassen und versuchte sich nochmal auszutricksen: Die Vermenschlichung sollte nur gelten, wenn sie keine menschlichen Züge mehr trug.) ¶

 

Wie sollte der Mensch auch ahnen, daß die Unergründlichkeit «Gottes» sich allein der Unergründlichkeit seiner Psyche verdankt, und die Unerkennbarkeit (das Ewige, das Unverursachte) des Gottes seiner Erkenntnisfähigkeit bzw. -unfähigkeit mittels Sinnen / Erfahrung entspricht. Der ganze lange Umweg über Gott führt den Mensch zur psychologisch-erkenntniskritischen Selbsterkenntnis. Die nur wenig Trost spendet, weil sie keine Welterkenntnis ist, ja gerade beweist, daß diese Welterkenntnis unmöglich ist. Und ohne Welterkenntnis letztlich auch keine Selbsterkenntnis – denn wozu sind wir im Universum? Wozu ist das Universum? Eine neue Erkenntnisstufe müßte zeigen, daß die Frage «wozu», also die Frage nach einem Zweck, unsinnig ist. Die Frage kann nicht beantwortet werden, sie wird (muß) sich einfach erledigen. ¶

 

Mystiker laborieren am großen Gedanken des Monotheismus. Bibel oder Koran ist dabei egal. ¶

 

Der Monotheismus ist der Versuch, das Höchste zu denken, ohne den Denker über alles zu setzen. An höchster Stelle steht der gedachte Gedanke – angeblich von niemandem gedacht. (Der Hybris wird im selben Atemzug mit Selbsterniedrigung, Demut, begegnet.) ¶

 

Die Wichtigkeit und Bedeutung von Religion zu leugnen, sie leichtfertig bzw. überheblich abzutun, bedeutet, erneut und immer wieder zu verdrängen, was in der Religion zum Vorschein gekommen ist und «bewußt» gemacht wurde. ¶

 

Die «Entdeckung» des Monotheismus ist bereits der Anfang vom Ende aller Gott-Religion. Es ist der höchste, der äußerste denkbare Gedanke und leitet den Siegeszug ein der philosophischen Spekulation, der Skepsis, des Nihilismus. Auch des Individualismus. Die «Entdeckung» des Monotheismus und des Individualismus fallen zusammen, insofern, daß der einzige Gott dem Gefühl des einzigen Ich entspricht – dem einzigen Objekt in der Welt, das wir «von innen» kennen und dessen Inneres (Seele, Ich-Bewußtsein) wir für unveränderlich halten, für ewig (wir kennen uns und nur uns, aber wir kennen von uns keinen Anfang und kein Ende). ¶

 

A. M. Hocart: «Atheismus ist nur der linke Flügel des Monotheismus.» Heißt: die Staatsreligion des zentralistischen Staates. ¶

 

So wenig die alten Mystiker Gott als bloße «Hypothese» abtun konnten, so wenig konnte Freud die Psychoanalyse als bloßes zeitgeschichtlich-gesellschaftliches «Symptom» betrachten. Wie sich das Unbewußte vorher in der vorwissenschaftlichen Religion manifestierte so jetzt in der wissenschaftlichen Psychoanalyse (nachdem «Wissenschaft» zur neuen Religion geworden war). Man steckt zu sehr drin, kämpft einen heiligen Kampf (der psychoanalytischen Bewegung gegen ihre Widersacher). Die Außensicht steht nicht zur Diskussion. ¶

 

Der Monotheismus will zum Unerschaffenen, zur unverursachten Ursache vordringen, heißt übersetzt: zum Unbewußten, Verdrängten, zur ungeformten Form, die unsere Psyche ist. ¶

 

Lacan: Gott ist nicht tot, sondern unbewußt. ¶

 

Wir erschaffen Gott durch die Sprache und erhoffen uns (zurecht) das wahre Erkennen in der Sprachlosigkeit. ¶

 

Typisch Menschheit: Der Eingott-Glaube sollte den Menschen befreien (vom Aberglauben) und erheben (du persönlich bist Gottes Geschöpf) und vereinigen (alle Menschen sind gleich). Doch dann geht der Streit und Konflikt nur auf «höherem» Niveau, in gesteigerter Form, weiter. So schafft jede Problemlösung des Menschen ein neues Problem. Ausweg? Das Problem als scheinbares erkennen? ¶

 

Der fragwürdige Autor Priskill behauptet mit viel ira und studio (in «Die Karmaten»), Konstantin u. a. haben mit militärischer Gewalt eine Religion durchgesetzt, damit diese das Volk an sich binde und so gefügig mache. Wozu aber dieser Umweg über eine Religion, die doch nur gewaltsam aufgezwungen ist? Warum sollte die Gewalt des Militärs nicht genügen? Tatsache ist, daß Konstantin die Religion brauchte, abhängig war von dem richtigen (Siege und Wohlstand verheißenden) Gott. Natürlich konnte dieser Gott kein Privatgott sein, sondern mußte der Gott für alle sein. ¶

 

Daß noch ein Jean Paul nicht von Gott als der großen Sinnstiftung der Welt lassen mochte, zeigt, daß wohl erst mit Aufkommen des Kapitalismus und Konsumismus, der modernen Geld-Religion und der Göttin «Wirtschaft», der alte Schöpfergott abdanken konnte. Jetzt produziert das Geld den Sinn. ¶

 

Wir wundern uns, daß die Menschen früher gleichsam gegen ihren Willen (wider besseres Wissen) am Gott-Glauben festhielten. Wir wundern uns nicht (oder zu selten), wie wir wider besseres Wissen am Glauben an den Kapitalismus festhalten. Wir kritisieren die Auswüchse der freien Marktwirtschaft und können uns doch nicht einfach den Kapitalismus wegdenken. Das Geld muß weg! Eine solche Forderung löst nur Kopfschütteln aus. Wir kommen so schnell nicht los von unserem Wahngebilde. ¶

 

Therapie ist immer ein sozialer Akt. ¶

 

Unsere Welterkenntnis wächst nur, indem wir immer mehr Individuen, immer mehr Individuelles kennenlernen. Nicht nur in Bezug auf Menschen. Wir betrachten etwa eine Landkarte, z. B. die Iberische Halbinsel. Ich habe sofort ein Gefühl für diese geographische Gegebenheit, die weit über das eigentliche «Wissen» (Portugal, Spanien, Sprachen etc.) hinausgeht. Ich verbinde etwas mit der Umrißzeichnung (von Urlauben her z. B.). Ich unterscheide die «Landschaft» eindeutig von der Landschaft eines «Italien». Wenn ich eine Karte von Asien oder Afrika betrachte, habe ich dieses Gefühl von «Individualität», Unverwechselbarkeit, Einzigartigkeit nicht. ¶

 

Für mich taugen einfach Übertreibungen nicht. Ich brauche immer ein rechtes Maß. Als Punk tauge ich nicht, und ich war auch immer nur ein halbherziger Hippie. Ich bin bürgerlich, Kulturbürger; aber das schreibt man sich nicht auf die Fahne. ¶

 

Vergessene Ironie: Der Übersetzer, der jedes «he strode» ganz ernsthaft mit «er stiefelte» übersetzt. ¶

 

Der Schwindel von «Facebook»: Die meisten der tagebuch-artigen «Posts» würden nie in einem Tagebuch landen. Es sind eben nie wirklich Bekenntnisse, sondern man ist nur darauf aus, die Wirkung von solchen zu erzielen, die Wirkung, die man von der Lektüre berühmter Tagebücher kennt. Auf unmittelbare Wirkung aus zu sein, verhindert gerade Erkenntnis (die sich ein Tagebuchautor erhoffen darf, die im Schreibvorgang läge). Was gesagt wird, war dem Pseudo-Bekenner längst vorher klar. ¶

 

Die Beschreibung archaischer Gesellschaften kann nie zum Zweck der Idealisierung geschehen. Wir können beschreiben, wie die Alten sich selbst gesehen, selbst gedeutet haben. Können diese Deutung aber ja nicht für uns übernehmen (die Alten haben Zustände gedeutet, die sich längst geändert haben). Unserer Deutung ihrer Deutung ist auch schon Deutung. Wir können immer nur in unserer Deutung leben. (Und diese Deutung muß immer ein Ungenügen feststellen angesichts eines Ideals, das ebenfalls Teil unserer Deutung ist.) ¶

 

Was Naturkatastrophen – in unseren Breiten – so beliebt macht, ist das garantierte tolle Gemeinschaftsgefühl, wenn es gilt Menschenketten zu bilden, um Sandsäcke an den Deich zu schaffen, und hinterher die gemeinsamen Aufräumarbeiten. Wobei das Ganze wohl nur via Fernsehen funktioniert – die Bilder sind ergreifend, nicht das Säckeschleppen als solches. Dieses verbindende, erhebende Gefühl darf man sich als das Gefühl einer Glaubensgemeinschaft vorstellen, die sich angesichts einer bedrohlichen Natur unter einem Gott zusammentut. ¶

 

Was Religion und Philosophie unterscheidet: Vom Religionsstifter wird erwartet, daß er die Wahrheit nicht nur kennt, sondern daß er «in der Wahrheit» ist, sie verkörpert, daß er nicht nur vom idealen Menschen spricht, sondern dieser «wahre Mensch», der «Menschensohn» (Geschöpf des Menschen, Geschöpf seiner selbst) ist. Schopenhauer konnte von der Verneinung des Willens gut reden, aber er hat sie nicht vorgelebt. Und doch übertragen wir unsere Vorstellungen von einem Religionsstifter immer auch auf die bewunderten Philosophen: Wir wollen gerne glauben, daß Epikur ein wahrhaft glücklicher Mensch war, daß Nietzsche nur mit der Peitsche zum Weibe gegangen ist. Aber Nietzsche konnte keine «Übermenschen»/«Wahre Menschen»-Religion begründen, weil er nur ein normaler, schwacher, kranker Mensch war. ¶

 

Wir «wissen» nichts. Wir glauben etwas, weil es mit unserer Erfahrung übereinzustimmen scheint. Wir sagen, daß Pluto kein Planet mehr ist, weil es (angeblich) mit unserer Erfahrung nicht (mehr) vereinbar ist, ihn «Planet» zu nennen. – Na schön. ¶

 

Atheismus, vorgetragen von A. Schmidt oder von Deschner oder Mauthner, hat was Erfrischendes. Aber genau das muß das (kritische) Denken leisten: Es muß uns erfrischen, also stärken. Wenn den Gläubigen seine Gottesvorstellung stärkt, scheint er zu funktionieren. ¶

 

Religion war ursprüngliche nicht für Trost zuständig. ¶

 

Es entspricht unserem Bedürfnis nach Heldengeschichten, daß wir uns die beginnende Neuzeit als Kampf Wissenschaft gegen Kirche, Rationalismus gegen Religion vorstellen. Man lese Koestler («Die Nachtwandler»), daß jemand wie Kopernikus alles andere als der große «Aufklärer» war. Und am Ende stellt sich heraus, daß die Wissenschaft / Technik eben nicht das verheißene Paradies auf Erden herbeiführen kann. Natürlich muß die Religion abgelegt, zurückgelassen werden. Es findet aber kein Bruch statt à la: so, jetzt sehen wir endlich klar. Sondern es haben sich nur die Begrifflichkeiten geändert, die Aufmerksamkeitsrichtungen, die Objekte der Begierde. Der Mensch ist sich bei all dem sehr gleich geblieben. ¶

 

«Bangemachen gilt nicht!» muß oberster Leitspruch aller politischen Agitation sein, will sie nicht Populismus sein. ¶

 

Wir leben immer in zwei, kategoriell voneinander getrennten Sphären: einer Erlebens- oder Handlungssphäre und einer Beobachtungs- oder Deutungssphäre. In der Erlebenssphäre leben wir gleichsam unbewußt, wir wissen nicht, was wir tun. Wir deuten immer erst hinterher. In der Deutungs- und damit Bedeutungsebene erscheinen uns die Handlungsweisen als symptomatisch (typisch, klischeehaft etc.). Das konkrete Handeln des Menschen ist aber nie «symptomatisch», sondern zwangsläufig individuell, also undurchschaubar. ¶

 

Die Französische Revolution gilt als Wendepunkt, als ein endgültiger Bruch – weg vom primitiven Menschen, hin zum rationalen. Und doch war gerade die Französische Revolution gekennzeichnet von den drastischsten Primitivismen: dem Blutrausch, dem Menschenopfer, allem voran dem rituellen Königsmord. (Es gibt kein radikales Handeln, keinen Bruch.) ¶

 

Umweltschutz als Glaubenssache und Religion. Der Gott, der auf unser Ritual angewiesen ist, ist mal das ölverseuchte Meer, mal der sterbende Wald, die Ozonschicht oder jetzt «das Klima». Die Umweltschutzreligion eint die Menschen und weist dem Individuum seinen Platz zu. Auch geht es um einen Kampf gegen Dämonen, gegen das Übel, gegen den Feind des Lebens. ¶

 

Wir sind nicht unsere Taten. Wir müssen immer auf Vergebung hoffen, denn wir wissen nicht, was wir tun. ¶

 

Die Krone der Schöpfung? Vielleicht das Bärtierchen (Tardigrada). ¶

 

Pubertät: Man spielt / übt Erwachsener. Aber eben ganz äußerlich. Man ahmt den Erwachsenen-Ton nach oder das Gebaren. Deswegen wird hier Rauchen gelernt, weil es erwachsen aussieht, nicht weil es schmeckt. ¶

 

Die Demokratie als der neue Glaube: Die Gewalt geht nicht mehr vom allmächtigen Gott aus, sondern vom Volk, das dieser Gott, laut Emil Durkheim, ja von Anfang an war. Dieses Volk ist jeder Einzelne, doch es ist natürlich nie im Einzelnen völlig aufgehoben, sondern nur in einem unfaßbaren Ganzen. Wie an den alten Gott muß man an die Demokratie glauben, sonst stirbt sie. Der Faschismus ersetzte die Demokratie, indem sie wieder einen Gottkönig installierte. Der Kommunismus sowjetischer Prägung hat auch die Vergöttlichung und Sakralisierung vorangetrieben. Das Unbefriedigende der Demokratie, daß es keinen Gott gibt außer dem Volk, ist ihr Humanes. ¶

 

Es läuft darauf hinaus – peinlich direkt gesagt –, daß wir die Menschen (alle Menschen) lieben müssen. Alles andere – Fraktionenbildung etc. – will nur die eigene Position stärken und einen Feind «vernichten». (Die Unmöglichkeit des Ansinnens angesichts der Tatsache, daß mich die Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung meist schon wahnsinnig nerven.) ¶

 

Wie die Begriffswahl über unsere Vorstellung der Geschichte entscheidet: «Mittelalter» – nichts Halbes und nichts Ganzes. «Völkerwanderung» – kein Volk geht auf Wanderung. ¶

 

«Würde des Menschen»: ein zentraler Glaubensartikel, ein Sakrament. ¶

 

Vielleicht sind wir wirklich nur richtig «lebendig», wenn wir gerade von unserer Unsterblichkeit überzeugt sind, wenn wir glauben und fühlen, daß uns nichts (also auch nicht der Tod) etwas anhaben kann. Das wahre, lebendige Leben ist der Lebens-Übermut, den man als Kind und Jugendlicher automatisch und als Erwachsener immer weniger hat. Das ewige, das wahre Leben ist nicht mehr garantiert. ¶

 

Es fällt uns schwer einzusehen, daß es «Kräfte» als losgelöste Entitäten nicht gibt (nicht in der Physik und sonstwo), sondern daß wir damit nur Vorgänge beschreiben. Nur der Vorgang (actio – reactio) ist existent, nicht irgendeine «Kraft». Bei dem Begriff «Macht», der ein Synonym ist, wird die Sache schon deutlicher. Wenn wir sagen, ein Mensch besitzt Macht, spürt man, daß das kein objektiver Befund ist. Jeder weiß, daß die «Macht» eines Menschen etwas ist, das andere diesem Menschen «verliehen» haben. ¶

 

Bei den Tuareg in Mali verschleiern die Männer ihr Gesicht, die Frauen nicht. Die englische TV-Journalistin fragt eine der Frauen, warum das so ist. Die Frau lacht, sagt: «Keine Ahnung, unverschleiert wäre einfach nicht richtig.» Die Antwort gefällt mir, vor allem mit dem dazu gehörigen Lachen. ¶

 

Der Mensch schafft sich immer Götter, denen er huldigt und Opfer bringt, von denen er sich Kraft und das Heil wünscht. Heute: Göttin Wirtschaft bzw. Göttin Technologie. ¶

 

Wenn «Intelligenz» nach Albert Jacquard nur eine Frage der Geschwindigkeit, nicht der Qualität ist, dann ist die sog. «künstliche Intelligenz» allerdings möglich. Laut Jacquard ist wahres Verstehen aber keine Frage der schnellen Erfüllung vorgegebener (also determinierter) Aufgabenstellungen, sondern z. B. die Einsicht, daß die Aufgabenstellung falsch oder unsinnig ist. ¶

 

Wie jedes Lernen wie ein Sich-Erinnern an etwas längst Gewußtes erscheint, so muß die Erkenntnis / Einsicht in unsere Fehler / falschen Ansichten wie ein großes Vergessen erscheinen: Wir müssen den Kapitalismus vergessen. Wir müssen das Denken in Hierarchien und in Gegensatzpaaren vergessen. Wir müssen Facebook & Co. vergessen und so weiter. ¶

 

Nichts existiert für den Menschen in der Welt ohne seine symbolische Bedeutung, die das eigentliche Wesen des Dings auszumachen scheint. Beim Auto ist klar, daß es nicht nur um Fortbewegung geht, sonst hätten wir unseren Personenverkehr anders organisiert. Selbst die Zahnbürste tritt zu einem Gesetz an, das mit bloßer Dentalhygiene nicht viel zu tun hat. Schampoo mit seinen Düften und angeblichen Wirkstoffen. ¶

 

Die gute Tat: Es gibt keine Handlungsweise, die an sich (absolut) gut wäre. Wenn ich meinem Mitmenschen helfe, muß ich mir den Einwand gefallen lassen: Das tust du doch nur, um dein Ego zu befriedigen oder um ein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Völlig richtig. Nicht in diesem Sinne ist meine Handlungsweise «gut». Vielmehr ist sie gut, wenn sie für jemanden gut ist. Eben nicht an sich. Mein Ego ist dann gar nicht das Thema. Sondern der Mitmensch ist froh, daß ihm geholfen wurde. Für ihn war mein Handeln gut. Nichts ist an sich. Sondern immer nur für etwas oder jemanden. ¶

 

In diesem Sinne gibt es natürlich auch keinen «guten Menschen», einen, dessen Tun für alle Zeit gut ist, sondern sein Tun ist nur für jemanden, vielleicht für viele, aber nicht für alle gut. Auch hier ist das Gute nur «etwas Gutes für» jemanden. Nicht der Täter ist gut. ¶

 

Wir bewegen uns immer und ausschließlich in einem Symbolraum. Der Mensch muß allem und jedem einen Sinn beilegen. Die Firma Telecom schickt mir ihre Rechnung mit der Parole: «Erleben, was verbindet.» Wer glaubt so etwas? Es ist aber nur das Sinn-Bedürfnis, das hier mit sinnträchtigen Wortklängen befriedigt werden soll. Ohne Sinn und Bedeutung können wir nicht eine Sekunde existieren. Noch der albernste Unsinn ist besser als kein Sinn. ¶

 

Die Ungeheuerlichkeit des Gedankens, daß die Inkas (wenn ich die TV-Sendung richtig in Erinnerung behalten habe) junge Frauen in «Klöstern» dazu «ausbildeten», mit ca. 14 Jahren geopfert zu werden! Aber ist das grausamer, als junge Männer in Kasernen dazu auszubilden, als Soldaten in einen Krieg geschickt zu werden? Die südamerikanischen «Vestalinnen» starben wohl im übrigen sogar schmerzfrei (von Rauschmitteln betäubt) und, nun ja, «würdig». ¶

 

Für den Menschen kann es keine Superlative geben, nur Komparative. Das Bedürfnis nach Superlativen müssen fragwürdige Elative erfüllen: Voll gut! Mega! ¶