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Der Vesuv an sich

Laut Markus Gabriel gibt es zwar nicht die Welt, dafür aber den Vesuv, und zwar gäbe es ihn auch dann, wenn es keine Menschen gäbe. Zugegeben: Wenn sich die Menschheit morgen per Atomkrieg selbst vernichtete, bliebe, so muß man wohl annehmen, der Vesuv, wie und wo er ist. Also gibt es den Vesuv unabhängig vom Menschen. Diese Sichtweise nennt Markus Gabriel (in seinem Buch ‹Warum es die Welt nicht gibt›) den «Neuen Realismus». Und ich dachte bei meiner Kant- und Schopenhauer-Lektüre kapiert zu haben, daß es vielleicht irgendwas gibt, das unabhängig vom Menschen existiert, daß wir aber nicht wissen können, was das wohl sein mag, was dem «Vesuv» in seiner menschenunabhängigen Form entspräche. In einer menschenunabhängigen Sphäre, wo im übrigen der Begriff «existieren» und das, was die Menschen mit der Idee von «Existenz» verbinden, doch wohl nicht existiert. Weil all dies Redeweisen, Beschreibungsweisen sind, die definitiv nicht menschenunabhängig sind, sondern abhängig von Redenden, Beschreibenden. Markus Gabriel sieht das anders: «Daß der Vesuv von Sorrent aus gesehen anders aussieht als der Vesuv von Neapel aus gesehen, liegt ja nicht im Auge des Betrachters, sondern ist eine Tatsache.» Der Vesuv soll also an sich «aussehen». Ohne gesehen zu werden.

 

Als ich die Lektüre begann, dachte ich im übrigen, es geht noch mal um das, was mich seit Schopenhauer ziemlich beschäftigt: die Welt als Vorstellung. Dann stellt sich raus: Es ist die große Abrechnung mit Skeptizismus, Relativismus, Konstruktivismus. Sonderbar: Über weite Strecken habe ich das Buch mit Gewinn gelesen. Die Beschreibung der Mengenlogik hat mir für mein Castoriadis-Verständnis sehr geholfen; bei Cornelius Castoriadis war ich sehr überrascht, daß die alte Mengenlehre derart in den Mittelpunkt der Philosophie rücken kann («alt», dachte ich, weil die zu meiner Grundschulzeit mal en vogue war; dabei ist sie einerseits natürlich fast hundert Jahre älter und gleichzeitig revolutionärer, als ich armer Nicht-Mathematiker geahnt habe). Auch bin ich bei Markus Gabriel zum ersten Mal auf den Namen Gottlob Frege gestoßen, und da Markus Gabriel sehr sympathisch am Rande erwähnt, daß Gottlob Freges Aufsatz «Über Sinn und Bedeutung» ein «kleines Meisterwerk» sei, hat mich sofort die Lust gepackt, das mal zu lesen. Die Tragweite der Fregeschen Unterscheidung von «Zeichen», «Sinn» und «Bedeutung» eines sprachlichen Ausdrucks hat sich mir dabei zwar nicht erschlossen, aber die Ausgabe, die ich habe, ist herausgegeben von Günther Patzig, und dessen Vorwort hat mir wiederum so gut gefallen, daß ich mir gleich darauf Band IV und dann auch noch Band I seiner «Gesammelten Schriften» zugelegt und in einem Zug gelesen habe. So geht’s. Markus Gabriel sei Dank.

 

Aber die Irritation bleibt: Ein so kluger Mensch, der Gottlob Frege durchdringt und dicke Bücher über Erkenntnistheorie verfaßt, sagt: Kant? Ganz übler Konstruktivist. Reines Wortgeklingel. Könnse vergessen. – Und wenn man erst mal die Aufmerksamkeit auf ein Thema lenkt, springt es einen von allen Seiten an: Gerade ist die deutsche Ausgabe eines Buches von Paul Boghossian erschienen: «Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus». Ich habe das mehr oder weniger unbesehen beim Versandbuchhändler bestellt. Ich wollte sozusagen noch eine zweite Meinung einholen. Vielleicht muß ja doch umgelernt werden. Jetzt ist das Buch eingetroffen, und wer hat das Nachwort geschrieben? Markus Gabriel.

 

Ich habe das schmale Buch bis Seite 35 gelesen und mag nicht mehr. Sein schlagendes Argumente gegen den Konstruktivismus Kantischer Prägung (es klingt bekannt): Die Tatsache, daß der Jupiter über dreißig Monde hat, ist, so der Autor, «nicht nur universal, sondern auch völlig bewußtseinsunabhängig ... Sie würde auch dann noch bestehen, wenn es menschliche Wesen nie gegeben hätte.» Das Problem: Der Autor könnte nicht mal angeben, was er damit meint, was man sich also darunter vorstellen sollte, wenn er sagt «wenn es menschliche Wesen nie gegeben hätte». Es erinnert an das kindische Unterfangen, sich auszumalen, man wäre tot. Klar, die Welt wird weiter existieren, auch ohne mich. Doch der Versuch, mir eine solche Welt vorzustellen, erzeugt zwangsläufig ein Bild von mir, der ich diese «Welt ohne mich» betrachte. Für den Menschen gibt es keine denkbare Welt ohne Menschen. (Verdammt, ist das denn so schwer zu verstehen!) Boghossian hält dagegen: «Laut unserer besten Theorie über die Welt gab es Berge auf der Erde, lange bevor es Menschen gab. Wie läßt sich dann behaupten, wir hätten die Tatsache konstruiert, daß es Berge auf der Erde gibt?» Frag mal einen Vogel, der sein Nest am Berghang baut, ob es für ihn einen «Berg» gibt. Frag die Ameise, die am Fuß des Berges ihren Ameisenhaufen hat. Was ist ein Berg? Boghossian würde vielleicht sagen: «Gut, streiten wir nicht über Namen. Nennen wir es ‹eine deutliche Erhebung über Normalnull›. Auch für einen Vogel müsste das ‹erkennbar› sein, daß das, was wir ‹Berg› nennen, eine Erhebung ist, denn wenn er die Erhebung nicht zur Kenntnis nimmt, fliegt er dagegen, und das wird der Vogel vermeiden.» Aber natürlich ist das Problem damit nicht gelöst. Der Begriff «deutliche Erhebung» setzt die Vorstellung von «Höhe» voraus in Relation zu etwas, das wir als «Ebene» erst definieren müssen, außerdem ein verbindiches Maß, das festlegt, was eine «deutliche» Erhebung von einer «undeutlichen» und damit «unbedeutenden» unterscheidet. (Und nicht immer kommen wir dann zum Resultat, daß die Erhebung ein «Berg» sei und sein Gegenstück das «Tal»; wenn das Tal mit Salzwasser gefüllt ist, nennen wir die «Erhebung» zum Beispiel «Insel» und das Tal «Meeresgrund».) All das sind relative Begriffe und bedeuten nichts an sich.

 

Die Irritation ist nicht zuletzt deswegen so groß, weil ich kaum glauben kann, daß es darauf hinauszulaufen scheint, daß ich diesen so sehr viel berühmteren, klugen Leuten unterstellen muß, Dinge nicht zu begreifen, die mir völlig klar und unmittelbar einleuchtend sind. In meiner Not habe ich im Internet nach Schützenhilfe gesucht. «Philosophie-Foren» für zurechnungsfähige Menschen scheint es nicht zu geben. Gefunden habe ich immerhin eine Rezension des Buches von Markus Gabriel, von Gregor Dotzauer in der ‹Zeit›. Der Autor hat Preise bekommen, ist also berühmt, und klug ganz offensichtlich auch, das verrät sein Text. Klüger als ich jedenfalls, was den philosophiegeschichtlich-erkenntniskritischen Gesamtüberblick angeht, und darauf kam es mir an. Seine Kritik ist das, was man gewöhnlich einen «Verriß» nennt – den polemischen Ton hätte es für meinen Geschmack nicht gebraucht. Aber er bestärkt meine Sichtweise. (Muß ich meinen Schopi also nicht in die Tonne tun.)

 

Gregor Dotzauer mokiert sich nicht zuletzt über die «spektakulär inszenierte, aber hochgradig unspektakuläre Behauptung, daß es die Welt nicht gibt». Als Buchtitel ist das ja durchaus witzig, also nicht ernst zu nehmen – und doch verlogen insofern, weil der Marketingplan natürlich vorsieht, daß der Großteil der Rezensenten genau darauf anspringt: «Huch, wie spektakulär», und daß die übrigen, die es durchschauen, immerhin so tun können, als sei es spektakulär, wie etwa das Literaturhaus Hamburg in seiner Werbung für eine Gabriel-Lesung: «Die These, daß es die Welt nicht gibt, ist provozierend und sie irritiert. Das soll sie auch. So beginnt Philosophie.» Ach, Quatsch. Die im Titel zum Ausdruck gebrachte These zeigt nicht zuletzt, wie sehr alle unsere Theorien von der jeweiligen Begriffsfindung abhängen. (Ein französischer Theoretiker hätte schwerlich Freuds Drei-Stufen-Modell vom psychischen Apparat entwickeln können – weil ihm das Wörtchen «es» fehlt.) Natürlich gibt es die Welt (ob konstruiert oder nicht). Was Markus Gabriel meint, ist folgendes: Die Grundlage unseres Erkennens und Denkens ist das Kategorienbilden, wir fassen zu Gruppen zusammen, nichts erscheint vereinzelt. Einzelne Gruppen werden wieder in neuen übergeordneten Gruppen, oder Mengen, zusammengefaßt und so immer fort. Wir können kein Ende finden. Die alles umfassende Supermenge ist für uns etwas Undenkbares. Markus Gabriel nennt die hypothetische alles umfassende Menge «die Welt», denn in dieser hypothetischen Supermenge wäre alles enthalten. Da wir aber nur Dinge erkennen können, die sich innerhalb einer Menge befinden, können wir die Welt nicht erkennen, sie müsste sich denn wiederum in einer Menge befinden. Daher gibt es die Welt nicht. Das, was wir für gewöhnlich «die Welt» nennen, und die ja es offensichtlich auch zu geben scheint, das, womit sich vor allem die Physik befaßt, ist für Markus Gabriel das «Universum».

 

Das erklärt einiges. Das allumfassende Unfaßliche – das hat man früher «Gott» genannt, oder? Der Titel des Buches könnte also genausogut lauten «Warum es Gott nicht gibt». So gesehen, wirklich nicht sehr spektakulär. ¶

 

‹Eine Kurzversion erschien unter dem Pseudonym Eike Harms in ‹Konkret› 10/2013. Die ganze Gabriel-Geschichte, die mich eine Zeit lang ziemlich beschäftigt hat, beweist nicht zuletzt eins: daß auch ein geborener Skeptiker (moi) auf eine Gewißheit ungern verzichtet: daß seine Skepsis berechtigt ist.›