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Lieber K. S.,

 

die Frage, die Sie in dem «Strang» zum Thema Jürgen Elsässer aufgeworfen haben, wie Schlausein und Massenwirksamkeit zusammengehen könnte, interessiert mich ebenfalls sehr. Die Frage, die sich mir in diesem Zusammenhang als erstes stellt, ist: Was heißt massenwirksam/massentauglich?

 

Mir selbst würde ich antworten: Man möchte nun mal wichtige Erkenntnisse, die man gemacht hat (also wirkliche Erkenntnisse, nicht bloße Meinungen, die man gerade hat) möglichst vielen Menschen mitteilen, in der Hoffnung, daß diese Erkenntnisse bei den Menschen ähnliche Reaktionen auslösen wie bei einem selbst. Diese Erkenntnisse wären ja wohl Wahrheiten im Sinne der Aufklärung, Wahrheiten, die also im weitesten wie im konkreten Sinne der Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse dienen.

 

(Man könnte und müßte das, was ich hier versuchsweise formuliere, viel genauer fassen.)

 

Dabei ginge es natürlich um einen Kommunikationsprozeß. Man wird also auch fragen müssen, wie funktioniert Kommunikation. Ich hätte wieder eine Antwort für mich selbst parat: Kommunikation funktioniert jedenfalls nicht so, daß ich was weiß, dieses Wissen den anderen wie ein ordentlich verschnürtes Paket zuschicke, das der/die andere dann auspackt und damit «versteht». Tatsächlich glauben die allermeisten Menschen, daß Kommunikation so funktioniert. A sagt was, und wenn B das versteht, dann hat er verstanden, was A gesagt hat. Tatsächlich hat B aber nur verstanden, was er glaubt, das A gesagt hat. B muß A deuten, interpretieren. Ohne diesen Akt des Deutens/Interpretierens kein Verstehen, keine Erkenntnis.

 

Was ist nun aber massentaugliche Kommunikation? Bestimmt nicht die, die einen bewußt reflektierenden, deutenden, interpretierenden «Empfänger» voraussetzt. Was massentauglich ist, ist ja nur zu bekannt: Carmen Nebel, Bild und Talkshows.

 

Das Problem der Aufklärung (und darum geht es doch) ist also nach wie vor: Wie eine nicht reflektieren wollende Masse dazu auffordern zu reflektieren. Ein Problem, das verschärft wird durch die Tatsache, daß Leute wie Elsässer oder Jebsen sehr reflektiert daherkommen. Als ich Ken Jebsen das erstemal auf YouTube gesehen/gehört habe («2. Montagsdemo», Berlin, 31. 3. 2014), hat mich inhaltlich zunächst nichts gestört, im Gegenteil, es ging um die Ungleichverteilung des Wohlstands/Reichtums; da war ich völlig d’accord. Was mir den Mann verdächtig gemacht hat, ohne daß ich von seinem Antisemitismus wußte, war gerade die geschliffene, massenwirksame Rede. Tatsächlich war meine Reaktion wohl auch mit einem Hauch Neid gemischt: Toll, wie der reden kann (klar, deutlich, leicht nachvollziehbar, alles andere als langweilig). Aber wieso Neid? Wenn ich mich ehrlich prüfe, dann würde ich das niemals wollen – vor einer großen Menge stehen und die mit meinen Ansichten «begeistern» wollen. Denn darum geht es ja immer bei diesen Veranstaltungen. Um Emotionen. Mein Ideal wäre es eher, vor Leute zu treten, eine Rede zu halten, die unterhaltsam und kurzweilig ist, aber nur dazu angetan, das Denk-Räderwerk der Leute ordentlich in Schwung zu bringen und keine unnötige Aufmerksamkeit auf mich zu lenken (oder so ähnlich).

 

Da würde jemand wie Jebsen vielleicht sogar zustimmen. In der YouTube-Rede wies er darauf hin, daß es schon ein Fehler sei, daß er da auf einem Podest stehe, also erhöht über den anderen Menschen, man müsse immer, auch in der Politik, von Gleich zu Gleich (bei Jebsen natürlich: «auf Augenhöhe») miteinander reden. Tja, aber dafür redet der Mann eben viel zu effektvoll, eben massenwirksam.

 

Was wieder zu der Frage zurückführt: Wie wollen wir denn (grundsätzlich) miteinander kommunizieren?

 

Oder auch zu der Frage: Gibt es Massenbewegungen (oder wenigsten Gruppenbewegungen), die nicht sofort unseren (nun: meinen) Argwohn erregen? Das könnte/müßte man vielleicht auch mal genauer untersuchen: Ein schönes Rockkonzert (bei dem ich gewiß nicht die Arme hochreiße, wenn ein einfallsloser Frontmann das vormacht), warum nicht? Auch ein schöner Vortrag, bei dem ich hinterher nicht in Jubelschreie ausbrechen muß ...

 

Sie schrieben in dem Strang: Es ginge darum, die «kleine Wahrheit», die sich in all der Demagogie von Elsässer & Co. findet, öffentlich sagen zu können – eben ohne die Demagogie. Ich fürchte, da ist schon der «Bruch in der Logik». Die «kleine Wahrheit» kann da nicht rausoperiert werden. Wenn ich meine «kleine Wahrheit» in einer Rede präsentieren wollte, würde ich jedenfalls nicht damit anfangen zu sagen: Elsässer hat recht in dem und dem Punkt, in dem aber nicht. Ich würde eine Rede halten, in der der Name Elsässer überhaupt nicht vorkommt. Weil dessen «kleine Wahrheit» unmöglich meine sein kann. Weil ich eine GANZ ANDERE Rede halten würde. Und selbst wenn wir, Elsässer und ich, uns im Wortlaut hier und da gleichen sollten, wäre der Sinn dieser Worte dennoch ein anderer.

 

Es läuft also wohl alles (für mich) darauf hinaus: Es kann nicht darum gehen, unsere «Wahrheit» massentauglich zu machen, sondern die Masse muß «wahrheitstauglich» werden. Die eigentliche Erkenntnis der Menschen müßte sein, daß die Wahrheit immer nur im einzelnen Individuum aufgehoben ist (erst der «B» von oben stiftet den Sinn in der Kommunikation, nicht bereits der «A»). Was wiederum auf ein Paradox hinausläuft: Das Individuum muß das Bedürfnis haben, Individuum sein zu wollen. Ein Bedürfnis, das schon ein Bewußtsein als Individuum voraussetzt.

 

Pardon, jetzt ist das Ganze viel länger geworden, als geplant. Das kommt wohl nicht zuletzt daher, weil ich im vergangenen Jahr sehr viel von dem französischen Philosophen Cornelius Castoriadis gelesen habe. Castoriadis sagt, daß die Menschen drei «unmögliche» (paradoxe) Projekte zu bewältigten haben: die Pädagogik, die Psychoanalyse und die Politik. «Unmöglich» seien diese Projekte deshalb, weil wir sie nie ganz in der Theorie erfassen können, da diese, die Theorie, sich immer wieder aufs Neue in der Praxis erproben muß: Wir müssen unsere Kinder erziehen, ohne je die einzig wahre Art der Erziehung kennen zu können, weil der «Ausgang» der Erziehung, der jeweils heranwachsende Mensch (was aus ihm wird), immer völlig unvorhersehbar ist. Ein paradoxes Unterfangen, das uns nicht daran hindert, «pädagogisch» tätig zu werden. Mit Castoriadis gesprochen, sollen wir uns also vor dem Projekt der Aufklärung nicht fürchten, nur weil es unmöglich ist! ¶

 

‹Kay Sokolowsky hatte sich am 23. April 2013 auf «Facebook» zu einem Video-Beitrag geäußert, in dem einige Auszüge aus einer Rede des Journalisten Jürgen Elsässer mit Auszügen aus einer Rede Adolf Hitlers kombiniert worden waren, in dem sich beide in verdächtig ähnlichen Worten (viel «wir» und «unser» und «Volk») den Mißstand der Konzentrierung des Kapitals auf einige wenige Oligarchen, sagen wir mal, kritisierten. Kay Sokolowsky schrieb: «Schon extrem gruselig & extrem gelungen, dieser Vergleich des einen mit dem anderen nationalen Sozialisten. Zumal für einen wie mich, der Elsässer einige Zeit lang als (nicht mal unangenehmen) Kollegen erfahren durfte. Allerdings: Wie kriegt man das auseinander – die Wahrheit, daß immer weniger immer mehr haben (oder immer mehr immer weniger), und die Lüge, daß dahinter eine Verschwörung steckt? Bzw.: Wie weicht man dem antisemitischen Wahngequatsche aus, wenn man den industriellen Feudalismus beschreiben will (und der existiert, fürchte ich, nicht nur in der Post-Sowjetunion)? (…) Ich will wissen, wie man die ‹kleinen Wahrheiten› politisch sagen kann, revolutionär sagen kann, ohne wie diese Scheißnazis daherzukommen – und es geht mir nicht um die blanke Mitteilung, sondern um das, was man erkenntnistheoretisch draus macht … Wie können wir schlau sein und massenwirksam, ohne uns zu verraten.» Meine etwas wortreiche Entgegnung schickte ich Kay Sokolowsky in Form einer «persönlichen Nachricht», weil sie die Form eines Facebook-«Posting» wohl kaum erfüllte.

 

Erst später – im Frühjahr 2015 – lese ich im übrigen, daß der Gedanke von den drei unmöglichen Aufgaben der Menschheit, den ich bei C. C. kennengelernt habe, bereits bei Freud formuliert ist. Ich fand ihn aber nicht bei Freud (im 7. Kap. von ‹Die endliche und die unendliche Analyse›), sondern bei Lacan (in der unterhaltsamen kleinen Schrift ‹Le Triomphe de la religion›). Nach Lacan-Freud-C.C. haben wir also im Grunde keine Ahnung, was wir tun, wenn wir tun, was wir tun müssen: éduquer, gouverner, analyser.›