Blatt 5

 

Januar 2015

Weil sich jetzt wieder die reflexartigen Kommentare häufen – ein unmaßgeblicher Versuch, ein paar Gedanken zum Attentat auf die Redaktion von ‹Charlie Hebdo› auf die Reihe zu bringen. Ich gehe von zwei Thesen aus:

 

These 1) Das Ganze hat nichts mit Religion zu tun (jedenfalls nicht direkt).

 

These 2) Das Ganze hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun (jedenfalls nicht direkt).

 

Begründung: Wer solche Morde verübt, ist ein Fanatiker. Ich kann keinen Unterschied sehen zwischen den Fanatikern, die jetzt in Paris 12 wehrlose Menschen abgeknallt haben, und dem Norweger (?), der vor einigen Jahren wehrlose Kinder auf dieser Insel abgeknallt hat (ich mag die Namen und Daten nicht googeln). Dieser Norweger hat, wenn ich mich recht erinnere, «im Namen der weißen Rasse» gehandelt, oder? Ist ziemlich wurscht. Er hätte sich auch als Verteidiger des «Abendlandes« fühlen können, als Christ. Und dann hätten mit gutem Grund die Christen im Abendland gesagt, das hat mit dem Christentum nichts zu tun. Entscheidend ist nicht die fadenscheinige «Begründung», die diese Täter immer parat haben, sondern ihr Fanatismus.

 

Die Frage wäre also: Was macht diesen Fanatismus aus, wenn nicht die Religion oder irgendeine andere «Begründung»? Ich würde zwei Aspekte ins Feld führen:

 

a) Der Fanatiker (die Fanatikerin auch) glaubt sich im Besitz einer absoluten Wahrheit. Er glaubt also zunächst einmal, daß es so was gibt – eine einzig gültige Wahrheit. Die bekannte «allein seligmachende» Wahrheit (sie macht den Fanatiker in der Tat selig). Über diese absolute Wahrheit kann der Fanatiker natürlich nicht diskutieren. Wer anderer Meinung ist, wer also überhaupt der Meinung ist, daß es nicht die eine seligmachende Meinung gibt, sondern so viele Meinungen wie Menschen, ist eine Bedrohung.

 

b) Es ist vor allem das Bedürfnis nach Gemeinschaft, das Fanatismus dieser Art hervorbringt. Das Bedürfnis nach einem «Wir». Die alleinseligmachende Wahrheit soll ja absolut sein, darf also gerade nicht nur fürs Individuum gelten. Das Individuelle ist ja das Bedrohliche. Eine Gemeinschaft muß her. Und das gemeinschaftsstiftende Moment war in der Menschheitsgeschichte in der Tat immer schon die Religion, aber nicht nur sie. Helmuth Plessner schrieb mit seinem großen Essay ‹Grenzen der Gemeinschaft› aus dem Jahr 1924 sowohl gegen die faschistische wie die kommunistische Ideologie an, gegen den Radikalismus der «Gemeinschaft», den beide propagierten.

 

Die «Gemeinschaft» grenzt sich ab vom Rest der Welt. Der Rest der Welt ist die moderne, korrupte, entfremdete «Gesellschaft», eine bloße Zweckgemeinschaft, um Handel und Wandel zu treiben, die Welt der Werbung und des Kommerzes und der Übervorteilung. Die wahre Gemeinschaft hingegen baut auf angebliche «wahre», ursprüngliche Werte: Blut und Boden etwa. Die «Erkaltung der menschlichen Beziehungen durch maschinelle, geschäftliche, politische Abstraktionen», schreibt Plessner, führe zu einem «maßlosen Gegenentwurf im Ideal einer glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft». In der Gemeinschaft gilt nicht die kalte Berechnung, sondern man opfert sich auf – eben für die Gemeinschaft. Wie weit diese Aufopferung gehen kann, ist bekannt.

 

Plessners Schlußfolgerung ist im übrigen, daß es allein die gesellschaftliche Sphäre ist, die das (im besten Fall glückliche) Zusammenleben der Menschen einer Nation und der Nationen untereinander gewährleistet. Denn die Sphäre des Gesellschaftlichen ist die der Distanz und des Takts (im Umgang der Menschen untereinander) bzw. der Diplomatie (im Umgang der Nationen untereinander). Die «Gemeinschaft» hingegen, immer bestrebt, die Distanz zwischen den Menschen aufzuheben (weil das Individuelle negiert wird) – nun, die mag bei Familienfeiern und auf Parteitagen zu ihrem Recht kommen, im Fußballstadion oder im Rockkonzert. Als Ideologie ist sie tödlich.

 

Das Problem, das ich in der jetzigen Situation sehe: Man hat dem verderblichen Gemeinschaftspathos der Radikalen nichts entgegenzusetzen, sondern antwortet seinerseits nur mit – Gemeinschaftspathos. Das große «Wir» wird mobilisiert. Die alleinseligmachende Wahrheit lautet auf dieser Seite der Front: «westliche Werte» (u.a. «Meinungsfreiheit»), und die sind natürlich auch «nicht verhandelbar». Also absolut.

 

Zu fordern wäre hingegen: Weg vom verderblichen Wir! Weg vom gefährlichen Absolutheitsdenken! ¶

 

 

‹Charlie› vorerst nicht «hebdo»

Die neue Charlie Hebdo läßt seit dem 14. Januar auf sich warten, aus dem «hebdomadaire» (Wochenblatt) droht ein «mensuel» (Monatsblatt) zu werden. Ich nutze die Wartezeit und mustere meine aus traurigem Anlaß zusammengestellte kleine Charlie-Bibliothek. Da wäre etwa ein Band mit gesammelten «Maurice et Patapon»-Strips von Ex-Chefredakteur Charb. Kater Patapon und Köter Maurice verkörpern – wie es sich für Figuren aus dem Reich der Fabel gehört – menschliche Eigenschaften. Patapon (Stichwort Katz-und-Maus-Spiel) steht für unseren Killerinstinkt, und Maurice, der einfach überall seinen Haufen hinmacht, steht fürs – Haufenmachen. Das so gezeichnete Menschenbild ist – in bester Voltaire-Tradition – wenig schmeichelhaft für die Krone der Schöpfung: der Mensch als ein Bündel von animalischen Trieben, nur dünn bemäntelt von Sprache und Vernunft.

 

Die Gewaltexzesse von Patapon haben was von Itchy&Scratchy-Episoden. Auf Pointe kommt es weniger an – es geht um die Variation des Ewig-Gleichen. Und die Kack-Exzesse von Maurice – nun, sie sind gewöhnungsbedürftig. Ich bin kein großer Freund von skatologischen Scherzen. Das heißt: bei Mozart mache ich immer eine Ausnahme. Niemand hat überzeugender die Conditio humana an die Defäkation geknüpft als der begnadete Bäsle-Briefe-Schreiber. Völlig einleuchtend sinniert der Einundzwanzigjährige: «Ich scheiße schon wirklich bald 22 Jahr’ aus dem nämlichen Loch.» Und: «Scheißen: das ist hart.» Unübertrefflich die Verherrlichung der schändlichen Tatsache, daß wir dazu verdonnert sind, tagein, tagaus Dreck zu produzieren: «Dreck! O Dreck! Süßes Wort! – Dreck! – Leck! – Schmeck! – Auch schön! – Dreck, schmeck! – Dreck, schmeck und leck! – Schmeck Dreck und leck Dreck!»

 

Wozu aber darauf herumreiten? Um immer wieder ein rechtes Maß herzustellen. Jean Paul: «Wie lächerlich die menschliche Gravität! Ihr habt sie bloß von Priestermänteln und Staatsröcken! Was seid ihr denn wichtig, wenn ihr pißt? Müßt ihr nicht kleine Dinge tun und den halben Tag lang denken?»

 

Ja, wir müssen. – Satire fungiert hier als Rache. Rache am Dasein, am So-Sein des Daseins. Und womöglich als Therapie im Sinne Tucholskys: «Selbsthaß ist der erste Schritt zur Besserung.»

 

 

Verteutscht:

 1.) Aus dem Leben gegriffen

«Ich lese gern auf dem Klo. Aber noch lieber kack ich vor dem Zeitungskiosk»

 2.) Logisch

«Wenn man weiß, daß Krieg ein Verbrechen ist, was ist dann ein Kriegsverbrecher?» – «Jemand, der sich weigert, einen anderen umzubringen.»

 3.) Vergleich

«Der Affe ist viel intelligenter als der Mensch. Er kann Lotto-Scheine ausfüllen, aber er tut es nicht.»

 4.)

«Ich kann Fische massakrieren, Vögel, Mäuse … Ich bedaure nur eins: dass ich keine opponierbare Daumen hab, um Fliegen die Flügel auszureißen.»

 

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