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Liebe B. K.,

 

ich schreibe Ihnen als Reaktion auf Ihren Artikel in der «kultur kolumne» der Konkret vom September, «Was reden die denn dann?» – ein Text, der mir vor allem in seinem ersten Absatz sehr aus dem Herzen gesprochen, an einem Punkt aber meinen Widerspruch erregt hat, nämlich dort, wo Sie schreiben: «Die Welt besteht nicht nur aus Gesellschaftlichem. Egal, ob ich ‹Regen› oder ‹rain› sage, wenn ich mich reinstelle, bin ich naß.»

 

Ich würde Ihnen dazu gern ein paar Gedanken mitteilen, weil ich glaube, daß Sie mit Ihrer (so meine Deutung) Trennung von Sprache und Bewußtsein einerseits und der Annahme eines «außergesellschaftlichen» Raums andererseits (zu dem Sie in Ihrem Beispiel dann ausgerechnet mit Hilfe eines ‹Satzes›, mit logischer Rede, also Sprache, Zugang finden wollen) – daß Sie damit Ihre eigene Argumentation schwächen. (Verzeihen Sie den ungebührlich verknappten Deutungsversuch. Sie dürfen mich im Gegenzug selbstverständlich ebenfalls nach Herzenslust mißdeuten.)

 

Der Satz von dem Regen scheint in der Tat unproblematisch genug: Wenn ich mich in den Regen stelle, werde ich naß. Aber ist der denn «außergesellschaftlich» denkbar? Nur in einer (wie Sie weiter unten selbst schreiben) von allem Sozialen entkoppelten Form, also in einer ganz abstrahierten Form. In dieser Abstraktion wird er gleichsam funktionslos bzw. er mag in einer Grammatik als Beispiel für einen korrekt gebauten deutschsprachigen Satz fungieren (das wäre dann seine neue, aktuelle Bedeutung: ‹korrekter deutschsprachiger Satz›).

 

Nur dieser völlig abstrakte Satz versteht sich scheinbar «von selbst», mag den Anschein erwecken, daß er auch «außergesellschaftlich» gültig ist – aber er ist doch nur die Abstraktion, die Verdünnung bis zur Bedeutungslosigkeit der konkreten Erfahrung des Naßwerdens im Regen.

 

(Der Satz als solcher hat sozusagen gar keine Bedeutung bzw. läuft auf eine Tautologie hinaus: Wenn ich ‹Regen› als die Nässe (Wasser in Tropfenform oder wie auch immer) definiere, die aus Wolken herunterfällt, ist klar, daß Regen mich naßmacht, wenn ich im Regen stehe. Die Äußerung ist sozusagen nur die logische (also tautologische) Aufgliederung in die Subjekt-Prädikat-Objekt-Form meiner ursprünglichen Definition von ‹Regen› (und der ganze Sachverhalt mag genausogut durch ein einzelnes chinesisches Schriftzeichen wiedergegeben werden.))

 

Die konkrete Erfahrung des Naßwerdens (die der Abstraktionsleistung immer vorangegangen sein muß) war aber nie «außergesellschaftlich». Wenn man zum Vorstellungsgespräch im feinen Anzug gegangen ist und ist in den Regen geraten, ist das was anderes, als wenn man sich auf einer Wanderung in regenfester Kleidung befindet, und wiederum anders wird das Kind naß, das begeistert in die matschige Regenpfütze springt; im Regenwald werde ich anders auf Regen reagieren als im Dürregebiet etc. (Ich weiß, daß Ihnen das klar ist.) Entscheidend ist: Das sind nicht die banalen «Ableitungen» oder «Exemplifizierungen» einer irgendwie «ursprünglichen» («außergesellschaftlichen») Tatsache ‹Regen›, sondern umgekehrt: Das konkrete «Naßwerden» ist real, ursprünglich, vieldeutig (nie wird einer auf gleiche Weise naß, nie werden zwei Leute auf gleiche Weise naß) – die Wortmünze ‹Regen› hingegen (oder der Null-Satz «Wenn ich im Regen stehe, werde ich naß») ist bloßes Abstraktum.

 

Warum glaube ich nun, daß Sie mit Ihrer Behauptung der Möglichkeit eines «außergesellschaftlichen Naßwerdens» (wenn ich so sagen darf) Ihre eigene Argumentation schwächen? Weil diejenigen, die an einer letztlich unüberwindbaren Ungleichheit von Frau und Mann festhalten, ähnlich argumentieren. Auch die Apologeten des Geschlechterunterschieds gehen von einem «außergesellschaftlichen» Raum aus, in dem die vermeintlich unbezweifelbaren, ewig gültigen Tatsachen angesiedelt sind. Der Standardsatz dieser Leute lautet: «Die Frau bekommt die Kinder, und das überall auf der Welt. Also!»

 

Die Tatsache scheint klar und selbstverständlich. Doch auch sie entstammt keinem außergesellschaftlichen Raum, sondern beruht auf Erfahrung (die die Menschheit natürlich schon vor längerem gemacht hat). Der Satz ist eine Abstraktion einer uralten Erfahrung, in seiner abstrakten Form aber gleichsam bedeutungslos, weil er nur wieder die syntaktische Aufgliederung unserer Definition von «Säugetier» ist (also seinen Platz im Biologiebuch hat, zur sinnvollen Abgrenzung etwa gegenüber ‹Reptilien›).

 

Sobald man nun unternimmt, sich unter dem Satz etwas Konkretes zu denken und sich die reale Erfahrung und Erinnerung an die Tatsache ‹Kinderbekommen› zu Bewußtsein bringt, wird klar, daß es die eine (weltumspannende, allgemeingültige, «eigentliche») Bedeutung von ‹Kinderbekommen› nicht gibt. ‹Kinderbekommen› bedeutet für jede Mutter etwas anderes, für jeden Vater etwas anderes, bedeutet in verschiedenen Gesellschaften etwas anderes, bedeutet in den verschiedenen Gesellschaftsschichten jeweils etwas anderes und hat zu allen Zeiten in der Menschheitsgeschichte Unterschiedliches bedeutet (man könnte wohl leicht Fälle finden, wo man den Eindruck von völlig «konträren» Ereignissen bekommen würde, was die «Wichtigkeit» des Ereignisses, was die Rollen- oder Aufgabenverteilung von Mann und Frau anginge etc.).

 

Es gilt auch hier entsprechend: Es gibt kein «außergesellschaftliches» Kinderkriegen (ich unterstelle Ihnen nicht, daß Sie etwas Derartiges behaupten würden – ich will hier nur meine kleine Analogie sauber zu Ende bringen) – und das bedeutet, daß es ganz unmöglich ist, aus einem Satz wie dem, daß überall auf der Welt nun mal die Frauen die Kinder bekommen, irgendwelche erhellenden Schlüsse ziehen zu können. Der Satz ist nur eine Abstraktion ungezählter konkreter menschlicher, also immer gesellschaftlicher Erfahrungen, der in der Wissenschaft (in seiner verknappten Form im Schlagwort ‹Säugetier›) seinen Zweck erfüllen mag. Da es aber (jetzt mein Credo) für den Menschen keinen gesellschaftsfreien Raum gibt, ist der Satz darüber hinaus ganz ohne Bedeutung ...¶

 

‹Barbara Kirchners Text ‹Was reden die denn da?› in der Konkret im September 2014 befaßte sich unter anderem mit Lann Hornscheidts Vorschlag für die Verwendung eines geschlechtsneutralen x-Suffix bei Anreden/Berufsbezeichnungen für Menschen, die keinem Geschlecht zugeordnet werden wollen. Ihren Artikel leitete Barbara Kirchner mit den  denkwürdigen Worten ein:

 

«Es ist schon kurios: Da gibt es Leute, die kein Problem damit haben, dauernd Wörter und Wendungen zu gebrauchen, die sie erst seit ein paar Jahren, höchstens Jahrzehnten kennen: ‹online›, ‹kompatibel›, ‹Islamismus›, ‹downloaden›, ‹elfter September›. Sie haben auch gefressen, daß manche Sachen heute anders heißen als früher: ‹Analyst› statt ‹Analytiker›, ‹zeitnah› statt ‹bald›. Sie sind auch damit einverstanden, daß die Zuordnung von Begriffen untereinander sich ändert: Pluto ist kein ‹Planet› mehr. Aber wenn irgendwer irgendwo vorschlägt, statt Mutter oder Vater lieber ‹Elter› oder statt Professorin oder Professor lieber ‹Professx› zu schreiben, dann geht für diese Leute die Welt unter. Gerade fordern Bastian Sick und andere aufgebrachte Reinheitsapostel in einem offenen Brief an die österreichischen ‹MinisterInnen für Frauen und für Wissenschaft› die ‹Rückkehr zur sprachlichen Normalität›.»

 

Im weiteren Verlauf erwähnt die Autorin die berühmte These von Sapir/Whorf, nach der man die Welt so sieht, «wie man über sie redet oder schreibt» – was ihrer Meinung nach nicht falsch sei, aber nicht in dieser absoluten Form gelte. Ihren Einwand illustrierte sie mit dem zitierten Regen-Beispiel.›