Blatt 12

 

 

Lieber Ulrich,

 

ich habe gerade mit größtem Genuß und viel Gewinn Dein Derwisch-Buch gelesen. Das möcht ich Dir doch gern mitteilen. Drauf gekommen (aufs Buch) bin ich auf allerlei Umwegen bzw. durch Dominostein-mäßige Anstöße und Anregungen. Tatsächlich ging es in etwa so: 

 

Ich habe vor geraumer Zeit von Ernest Becker ‹The Denial of Death› (1973) und dann das sogar noch etwas bessere ‹Escape from Evil› (1975) gelesen. Dort geht es, grob gesagt, um die unüberwindliche Todesfurcht des Menschengeschlechts und wie es (das Geschlecht) damit umgeht und alle Kultur letztlich dem Unsterblichkeitswunsch entspringt, was, ebenfalls grob gesagt, ein, wenn nicht der, zentrale Gedanke von Otto Rank (‹Kunst und Künstler›, 1930) ist – auf den Becker denn auch allerorten mit großem, ansteckendem Enthusiasmus hinweist. Was mich zu einer sehr ausgedehnten Otto-Rank-Gesamtwerk-Lektüre geführt hat. 

 

Becker hat aber ebenso enthusiastisch (vor allem im ‹Evil›-Buch) auf den heute weitgehend in Vergessenheit geratenen britischen Anthropologen A. M. Hocart hingewiesen (‹Kings and Councillors›, 1936), dessen zentraler Gedanke der vom rituellen Ursprung aller sozialen Institutionen ist. Nach Hocart waren die ersten Könige keine Herrscher im politischen Sinne, sondern die Zeremonienmeister und Inhaber des (lebensspendenden) Rituals. Diese «Könige» verkörperten das Göttliche, zugleich aber auch das Opfer des Rituals, was Hocart zu der wohl gar nicht ironischen Formulierung veranlaßt: «Die ersten Könige waren tote Könige.» – Auf einer eigenen Website habe ich zu meinem Privatamüsement ein paar kleinere Hocart-Essays in Eigenübersetzung zusammengestellt.

 

Und auf einen dritten großen eigenständigen Denker hat Becker mich noch gestoßen: auf den (insgesamt wohl nicht ganz undubiosen) Norman O. Brown und dessen ‹Life Against Death› (1959), das in die gleiche Richtung zielt wie Rank einerseits (Todesfurcht als Movens) und Hocart andererseits (die (unbewußt) sakrale (also nicht-rationale) «Basis» aller sozialen Institutionen bis auf unsere Zeit (heute frönen wir dem Gott bzw. der Göttin «Wirtschaft»). Nur daß Brown weder Rank noch Hocart nennt oder kennt, dafür Freud und Marx und Mauss und Durkheim etc. Bei Brown ist mir u. a. klar geworden, wie Religion und Psychoanalyse doch sehr an einem Strang ziehen (was mir auch schon Rank erklärt hat): Beide behaupten, daß die «eigentliche» Welt eine unsichtbare sei und nennen das Unsichtbare Gott oder das Unbewußte (das nach Freud bekanntlich «zeitlos», ohne Anfang und Ende, ist). (Lacan: Gott ist nicht tot, er ist unbewußt.)

 

Jetzt der vorletzte Dominostein: Bei der Brown-Lektüre fand ich die Erwähnung eines anderen Buches des Autors: Transkripte einer Vorlesungsreihe zum Thema Islam («The Challenge of Islam», 1981), das ich kurzerhand auch noch las, weil Brown wohl nicht zu unrecht sagt, daß die «westliche» Welt die Welt des Islam seit Jahrhunderten mehr oder weniger entschieden «verdrängt» hat. Und da sich das Verdrängte laut Freud früher oder später an entlegener Stelle (meist unerfreulich-neurotisch) wieder bemerkbar macht, ist unserer gegenwärtige «Islamismus»-Debatte/Furcht/Hysterie wohl nicht zuletzt auch Ausdruck dieser Verdrängung des vermeintlich Ganz-Anderen, aber in Wirklichkeit doch so sehr Verwandten. In diesem Brown-Buch lernte ich dann, wie sehr die frühen «Mohammedaner» Ansichten und Gedanken der christlichen Gnostiker übernommen und (anders als die Christen) bewahrt haben: nicht zuletzt die Vorstellung, Christus könne unmöglich gekreuzigt worden sein. Brown betrachtet den gnostisch/islamischen Glauben an eine Schein-Kreuzigung als eine «Ästhetisierung» des Christus-Stoffes (was mit der englischen Übersetzung der entsprechenden Koran-Stelle auch besser geht als mit der dt. Henning/Reclam-Übersetzung: Sure 4,156: «yet they did not slay him, nor did they crucify him, only an appearance of that was shown to them»). Brown betont, wie der «schöne Schein» im Islam damit eine eigenständige Rolle zugeschrieben bekommt (Jesus als schöner Mensch; Gott als ästhetisches Phänomen).

 

Brown vergleicht sehr anregend-einleuchtend bzw. nachvollziehbar die Koran-Lektüre mit der Lektüre von ‹Finnegans Wake› – beides seien Bücher, die es darauf angelegt hätten, die gewohnte Rezeption zu unterwandern, uns zu verwirren, vor den Kopf zu stoßen, zu überfordern etc. – Der Vergleich ist nicht bloß exemplarisch gemeint, sondern FW sei tatsächlich Koran-nah, so Brown, denn der Koran wimmele nur so vor Wortspielen, Sprachspielen, Anspielungen und Sinnverdrehungen etc., die in Übersetzungen leider allesamt verloren gingen; und andererseits hat Joyce u. a. alle einzelnen Suren-Titel in seinem Buch verbraten und vermengt. Wußte ich auch nicht.

 

So, und noch während der Brown-II-Lektüre stieß ich beim Versandbuchhändler auf Deine komischen Derwische, und die paßten tatsächlich wie die Faust aufs Auge. Ich habe nicht gewußt, nicht mal geahnt, wie sehr die bei aller Sonderbarlichkeit doch regelrechte Philosophen waren und eben nicht Theologen. Es geht ihnen um all das, was auch die Herren (leider nicht Damen, oder?) Berkeley, Kant, Fichte, Schopenhauer, Nietzsche, Freud auch zu durchdringen versucht haben: um Erkenntniskritik und um Selbsterkenntnis, die Undenkbarkeit – oder ganz evtl. doch nicht Undenkbarkeit? – des Absoluten einerseits und die unbewußte «Triebseele» anderseits; Ding an sich und Wille und Vorstellung … Alles schon dagewesen. Den Koran haben die für ihre Gedankenspiele eigentlich gar nicht gebraucht, oder? Die haben sich im Grunde voll und ganz an dem Monotheismus-Gedanken abgearbeitet, oder? Denn das ist natürlich in der Tat eine menschliche Spitzenleistung bis auf den heutigen Tag: diese unglaubliche Abstraktionsleistung der All-Einheit – die uns aber zugleich nur vor Augen führt, daß die eben undenkbar ist. Höchste Erkenntnis fällt zusammen mit der Einsicht in die Unerkennbarkeit von irgendwas Jenseitigem. Und dann (das erzähl ich Dir, obwohl Du es genauso irgendwo auch in Deinem Buch schreibst) – dann ist es nur noch eine Temperamentfrage des jeweiligen Mystiker-Philosophen, wie er das verarbeitet, masochistisch oder sadistisch, pessimistisch oder optimistisch, Schopi oder Nietzschi.

 

Also, an dem Punkt bin ich jetzt, noch sehr enthusiasmiert, und daher diese viele Zeilen. Ich werde wohl noch ein paar Islam-Studien betreiben. Bestellt habe ich vorerst (Faksimile-Reprint aus Indien!) ‹Die Philosophie der Araber im X. Jahrhundert n. Chr.› von Dieterici (1876). Mal sehen, worauf das hinausläuft. 

 

‹E-Mail vom 20. 4. 2017›

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

U. Holbein, Autor u. a.  von ‹Ich ging ohne mich zu Gott – Lebensbilder komischer Derwische› (Synergia: Roßdorf 2014), (li.) und einer seiner Leser (re.), auf der Frankfurter Buchmesse 2017.