Blatt 13

 

Wie gesellschaftlich Neues entsteht

 

Im Internet kursiert ein einminütiges Video der Tagesschau-Redaktion aus Anlaß der Reform des Paragraphen 177, mit der am 15. Mai 1997 beschlossen wurde, daß sexuelle Nötigung in der Ehe fortan als Vergewaltigung geahndet werden kann. «Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 20 Jahren strafbar. Bis dahin war es ein langer Weg» schreibt die Tagesschau zu dem Video, in dem man unter anderem eine junge, ernsthaft besorgte Petra Kelly sieht, die sich 1983 im Plenarsaal des Bundestags an einen FDP-Abgeordneten Detlef Kleinert am Rednerpult mit der Wortmeldung wendet: «Ich möchte Sie fragen, ob Sie dafür sind, daß die Vergewaltigung in der Ehe auch in das Strafgesetz kommt?« – «Nein!» kommt es wie aus der Pistole geschossen zurück. Die Plötzlichkeit und Heftigkeit, mit der die Antwort ausgestoßen wird, macht deutlich, was der Abgeordnete von der bloßen Frage hält und gewiß auch von der Fragestellerin, die ja wohl nicht erwartet, daß man einen solchen Unsinn ernstnehmen werde. Von seiner impulsiven Antwort offensichtlich selbst überrascht, muß der Abgeordnete verschämt lachen. Alles andere als verschämt dagegen die Reaktion der Abgeordneten der rechten Saalhälfte: lautes Grölen und sichtliches Schenkelklopfen. Der Wortwechsel, dem sie beigewohnt haben, war eine komische Einlage, eine Art symbolische Szene einer Ehe: Vattern hat auf den Tisch gehauen, hat ein Machtwort gesprochen, Ende der Diskussion, können wir uns jetzt bitte wieder der Politik zuwenden.

 

Die Kommentare auf Facebook, wo mir das Video präsentiert wird, sind sich einig: «unglaublich», «absurd», «schockierend». Was man gesehen hat, ist in der Tat empörend. Und doch wäre es ein Fehler zu glauben, daß die Gesetzesänderung, für die es dann noch weitere vierzehn Jahre brauchte, allein gegen den Widerstand von frauenfeindlichen, patriarchalisch denkenden Männern erstritten wurde, die sich aus Angst vor einem Machtverlust dagegen gesträubt haben, eine Selbstverständlichkeit zu akzeptieren, nämlich die der sexuellen Selbstbestimmung der Frau. Natürlich gab es auch damals unter den männlichen Abgeordneten viele Besonnene, für die die Gleichberechtigung von Mann und Frau außer Frage stand, die dennoch der Meinung waren, daß die sexuelle Nötigung innerhalb der Ehe anders zu behandeln sei als die außereheliche, sei es, weil sie glaubten, daß die Staatsanwaltschaft im Schlafzimmer der Bürger grundsätzlich nichts zu suchen habe, sei es, daß man sich nicht vorstellen konnte, wie eine solche Vergewaltigung beweisbar sein solle.

 

Es ist wichtig zu begreifen, daß der Sachverhalt gerade nicht selbstverständlich war. Sondern selbstverständlich war für die meisten Menschen, daß die sexuelle Nötigung durch einen Fremden etwas kategoriell anderes sei, als der sexuelle Zwang, der innerhalb der Ehe ausgeübt wird. Das, was die Reform von 1997 geleistet hat, war daher nicht die juristische Anerkennung von etwas Evidentem, sondern vielmehr eine Umdeutung, eine Neudeutung dessen, was wir unter «Vergewaltigung» verstehen wollen.

 

Nur so entsteht gesellschaftlich Neues: durch Neudeutung, die ein schöpferischer Akt ist, da sie Erschaffung ist von Etwas, das vorher (so) nicht war. Wenn man lediglich auf Evidenz pochen würde, müßte zu jeder Zeit das gesellschaftlich Mögliche schon vorhanden sein. Ist es aber offensichtlich nicht. Wir finden nicht einfach vor, wir erfinden. In diesem Sinne spricht Cornelius Castoriadis davon, daß alles Gesellschaftliche «imaginäre Institution» sei, ein Produkt der Einbildungskraft, die, so Castoriadis, besser «Bildungskraft» hieße. 

 

‹26. Mai 2017›