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«So ein Wicht!» («Wicht» als Verkleinerungsform von «Wichtigtuer».) ¶

 

Da alles, was wir äußern, in irgendeiner ‹Form› geschieht, immer der Form bedarf, wäre das höchste Bewußtsein ein Formbewußtsein. ¶

 

Sommer 2014: Ich möchte wetten, daß die Allermeisten im Land im Grunde ihres Herzens der Meinung sind, daß «wir» (also die Deutschen) den Fußballweltmeistertitel ebenso wie das anhaltend schöne Wetter verdient haben. ¶

 

Wir können in jedem Medium, in jeder Umgebung, in jeder Situation immer nur sagen, was das Medium, die Umgebung, die Situation uns zu sagen erlaubt. In einer E-Mail können wir nur Dinge sagen, die E-Mail-tauglich sind, bei Facebook nur Facebook-Adäquates, im Tagebuch Tagebuchartiges, im Roman Romanhaftes. (Da wir nie außerhalb einer Situation sind, können wir nie «Klartext» reden.) ¶

 

Kitsch-Romane: Der Erzähler machte Reflexionsgeräusche ... ¶

 

Literatur und Einsamkeit: Jede literarische Darstellung der Einsamkeit geht am Wesen der Sache vorbei. In einer Roman-Szene ist immer auch der Leser und der Erzähler/Autor anwesend. (Beobachtete Einsamkeit ist keine Einsamkeit.) ¶

 

Genauso falsch und fatal wie das selbstzufriedene Sich-Einrichten in der Welt ist das Leiden an der Welt. Beide Haltungen gehen davon aus, daß 4 Milliarden Jahre Erdgeschichte und 3 Millionen Jahre Menschheitsgeschichte ausgerechnet auf mich gewartet haben, daß ich mich gemütlich einrichte oder andersherum: daß ich das Ungenügen der Welt feststelle und zur großen Strafpredigt anhebe. Wohl kaum! Beide Haltungen wollen einfache, eindeutige Verhältnisse. – Die an der Welt leidenden Intellektuellen und Künstler zu Anfang des 20. Jahrhunderts sehnten sich nach dem großen vaterländischen Krieg, der endlich die eindeutigen Verhältnisse wieder herzustellen versprach. Entsetzlich. ¶

 

Die Wörter bedeuten nichts an sich. Jedes Sprechen muß sie neu definieren. Das geschieht zum Beispiel durch korrektes, behutsam abwägendes Sprechen; durch Reflexion, also erklärende Rückbezüge (wie in diesem Moment), mit denen man immer wieder aufs neue (provisorisch, für die Dauer des Textes) festlegt, wie man die Sache (die Worte) verstanden wissen will. Damit stellt man, stelle ich, unweigerlich eine Relation her – zwischen mir und dem zu beschreibende Ding. Nicht: Der Film ist super (an sich), sondern: hat mir gut gefallen aus diesem oder jenem Grund. Das ist den meisten Menschen zu umständlich (man muß in der Tat Umwege gehen) und wirkt dadurch zugegeben recht unspektakulär. Mit Begeisterung stürzt man sich daher auf jedes neues Schlagwort, das zu recht so heißt, da es scheinbar ganz unmittelbar, schlagartig, zu den Dingen vordringt. Die jeweils aktuellen Elativ-Partikel (wenn das der Terminus ist) wie «total», «voll» wollen unmittelbare Bedeutung, indem sie Totalität behaupten, obwohl es immer nur um Aspekte und Relationen geht. «Total toller Film» braucht angeblich keine Erklärung. Korrekt hieße es: «Der Film ist meiner Meinung nach gut / besser als der-und-der-Film aus dem-und-dem Grund.» Entsprechend die Verabsolutierung des Jargons: total toll, voll scheiße etc. (Alle unsere Äußerungen sind relational; mit «total», «voll» wird Absolutheit behauptet.) – Ich habe mich immer gewundert, warum die Leute so gern nachplappern, also wörtlich Formulierungen übernehmen (plötzlich sagen alle «auf Augenhöhe» oder «nicht wirklich»). Der Grund ist wohl genau der: Es ist diese Uneindeutigkeit der Sprache, von der eine große Unsicherheit auszugehen scheint, weil Sprache nie trifft, sondern immer nur Relationen herstellt und einen Gegenstand umkreist. Die Relation aber verweist auf meinen Standpunkt, den Punkt im Relationsgefüge, den nur ich einnehme. Wir stehen auf diesem Punkt notgedrungen völlig allein. – Das korrekte, behutsame Sprechen ist das Sprechen des Individuums, das Relationen schafft und einen Standpunkt bezieht, den kein anderes Individuum, kein anderer Sprecher einnehmen kann. Es ginge um das Sprechen von Individuum zu Individuum, also ein Sprechen in der Gesellschaft (in Plessners Sinne), im Gegensatz zum verabsolutierenden Sprechen, das ein Sprechen in der Gemeinschaft ist (einer Gruppe, die sich bereits immer einig ist): dem «Geplauder» in seiner angenehmen Form und dem «Geschwätz» in seiner unangenehmen Form, dem Getratsche, der Stimmungsmache, dem Meinungsterror. ¶

 

Goethe: «Kein Wort steht still, sondern es rückt immer durch seinen Gebrauch von seinem anfänglichen Platz.» (Maximen und Reflexionen, 746)  ¶

 

Erwachsene, die «geil» sagen. ¶

 

Die Uneindeutigkeit, Ambivalenz, jedes Gesprächs. Man könnte jede «Lüge» brandmarken, die sich Höflichkeiten, Konventionen etc. verdankt. ¶

 

Eine im Grunde unstatthafte Ebenenverwechslung findet regelmäßig in Romanen statt, wenn einer literarischen Figur alle möglichen Sachverhalte in den Mund gelegt werden, die eigentlich der Erzähler loswerden will. Wirkt daher auch oft komisch. ¶

 

Prämisse im Alltag, im wirklichen Leben: Grundsätzlich nichts Dramatisieren. Die Dramatisierung, also Fiktionalisierung, im Alltag ist immer Klischee, Selbststilisierung, Eitelkeit, Blendung, Lüge. ¶

 

Freund L.: Ganz und gar selbstbezogen, handelt immer berechnend. Mitmenschen sind ihm (gleichsam aus Furcht) immer nur Mittel (er hat Angst um seinen heiligen Zweck). Wenn alles gut läuft, kann das Formen von Selbstlosigkeit annehmen.  ¶

 

Jede Generation muß ihre eigene Zeit verkennen; die Informationsfülle ist einfach zu groß. Daß wir das Gefühl haben, die Vergangenheit (besser) verstehen zu können, liegt daran, daß die Informationen sich scheinbar wie von selbst gelichtet haben. Wir lassen leichter weg; vergessen ganz natürlich; es ist alles schon vorsortiert. Das, was wir dann für ein gültiges Bild von der Vergangenheit halten, ist nie eine Gegenwart gewesen. Die Gegenwart ist immer die unerkennbare unmittelbare Überfülle. Wenn dann Autoren ankommen und eine scheinbar wasserdichte Analyse der Gegenwart abliefern (wie etwa Metz/Seeßlen in ihren ‹Blödmaschinen›), dürfen wir Skeptiker nur mit den Ohren schlackern: Woher haben die den Durch- und vor allem den Überblick? Haben die uns was wesentliches voraus? Sind wir zu dumm? Sind die so viel klüger als wir? Das ist ja oft gewiß auch der Fall. Aber ernsthaft den Durchblick zu behaupten, ist doch auch eine Form von Dummheit. – Die Vergangenheit ist scheinbar «natürlich» zum Modell geronnen. Wir vergleichen die nie sich zum Modell reduzierenlassende Gegenwart (weil wir sie erleben, können wir den Widerspruch von Modell und Leben immer erkennen) mit diesem Modell, das zu diesem Zweck wohl auch erst ausgearbeitet wird. Deshalb läuft jede Kulturkritik auf den Reduktionismus hinaus: Früher war alles besser.  ¶

 

Blödmaschinen: Was ist das Neue? Neu ist die Computerisierung, das Internet. Bedeutet die Verdummung durchs Internet aber eine neue Qualität der Verdummung (Entmündigung, Fremdbestimmung, wie auch immer)? Oder nur eine Verschlechterung, Verschärfung? Vorher war das Neue das Fernsehen. Davor die Zeitung. Irgendwas ist immer, oder? Wenn Jean Paul schreibt: «Es braucht bloß einen Krieg in einem Land, um bessere Geographie darüber zu bekommen» – das ist eine sehr moderne Beschreibung des von Metz/Seeßlen beschriebenen Effekts der Pseudo-Information (wenn ich die Autoren richtig verstanden habe). Oder Lichtenberg, der schreibt: Zwei Drittel einer Zeitung ist Lüge, ein Drittel Richtigstellung der Lügen vom Vortag. Das beschreibt auch eine Totalität der Verdummung (wenn es denn darum geht). Oder Immermann, der den Zeitschriften-Abonnenten beschreibt, der nur noch in der Welt der Illustrierten lebt. – Der Blick auf die Welt (durch die Medien) verstellt den Blick auf die Welt. Also nichts Neues unter der Höhensonne? ¶

 

Jeder kluge Gedanke muß, um Erkenntnis zu sein, über sich und seinen direkten Bezugsrahmen hinausweisen. (Weshalb es im Fernsehen in der Regel nie um Erkenntnis geht; auch nicht in der Zeitung; in den geschlossenen Welten im Netz.)  ¶

 

Hat nicht jemand Kluges gesagt, Kunst sei 5 Prozent Genie und 95 Prozent Pedanterie? Für unübersehbare viele Romane, die auf den Markt gelangen, gilt: 5 Prozent eitler Wahn und der Rest Lektorat. ¶

 

(Ziel der explorativen Literaturkritik wäre die Beschwörung des Geheimnisses des Werks.) ¶

 

Kann es in der Philosophie und in allem Forschen um etwas anderes gehen als um die Frage, wie wir leben sollen? ¶

 

Wie klischeehaft wollen wir sein? Das ist keine rhetorische Frage. Niemand kann ohne Klischee, ohne Muster, ohne Vorgelebtes, Vorgemachtes auskommen. Doch Tatsache ist, daß sich den meisten Menschen diese Frage nicht nur nicht stellt, sondern sie sind geradezu begierig darauf, sich ins Klischee zu fügen: die Hochzeitsgesellschaft, die hupend durch die Straßen fährt, die Braut in weiß, der schönste Tag im Leben etc. Diese Menschen haben natürlich nicht das Gefühl, in einem negativen Sinn «klischeehaft» zu sein (was nichts anderes heißt als: phantasielos zu sein), sondern sie werden das Gefühl haben, jetzt verdientermaßen an der Reihe zu sein, sich so zu benehmen. Oder dazuzugehören, wenn sie zum Beispiel die jeweils aktuelle Klischee-Sprache vorbehaltlos übernehmen, «Wir müssen reden!» sagen oder «zeitnah» oder «auf Augenhöhe» etc. ¶

 

Der Kitsch des Gemeinschaftserlebnisses. ¶  

 

Ich mag keine Aphorismen, weil ich lebhaft empfinde, daß jeder Gedanke entwickelt werden will, beim Sprechen, beim Schreiben, bzw. nachvollzogen beim Hören, beim Lesen. Aphoristische Kürze kann zweckdienlich sein. – Der Witz dagegen muß kurz sein. Sein Gedanke kann gerade nicht vernünftig entwickelt werden. Er leuchtet nur in seiner Kürze ein. Daher seine Beziehung zum Unbewußten (zum Unvernünftigen). Bei Koestler: Wir lachen, wenn unser Verstand, der hinterherhinkt, schließlich kapiert, daß er dem Unbewußten (dem instinktiven Bedürfnis, eine Sache so-und-so zu sehen) auf den Leim gegangen ist. – Witzige Aphorismen (wie bei Lichtenberg) sind, als Synthese, schön paradox: Unvernünftige Lehrsätze. ¶

 

Irgendwo bei Watzlawick: daß die Realität nur dort aufscheint, wo unsere Modelle und Theorien versagen. Meine eigene Beobachtung im Roman: daß die Realität nur dort aufscheint, wo das Roman-Schema unterwandert wird. Im Alltag: daß der wahre Mensch nur dort aufscheint, wo er vom Klischee abweicht (und damit undurchschaubar bleibt). In der Sprache (bei Goldschmidt): wo die Sprache an ihre Grenzen stößt, nämlich an die Grenze der anderen Nationalsprachen à la «They have a word for it». ¶

 

Die Unverzichtbarkeit einer «Strukturanalyse» für einen literarischen Text, eines «strukturalistischen» Verständnisses: Das Hauptmißverständnis rührt immer daher, daß die Figuren etc. losgelöst von ihrer Funktion im Text begriffen werden. Nur so kann man ernsthaft, wie seinerzeit geschehen, Emma Bovary «Vorwürfe» machen, oder dem Agathon. Unzulässige Ebenenverwechslung.  ¶

 

Primitives Denken / magisches Bewusstsein: z. B. das Bedürfnis nach Rache (Todestrafe). Aber auch Neid: Bei klarem Nachdenken völlig absurd, auf jemand anderen neidisch sein zu wollen. Ich müsste der andere sein wollen, mit Haut und Haar. Erinnert an den Kannibalen, der seinen Feind verspeist, um sich dessen Geist einzuverleiben. ¶

 

Rache und Vergeltung als Bedürfnis und Rest «magischen Bewußtseins». (Jeder zweite Online-Leserbrief will im Grunde «fertig machen», will «heimzahlen», «vernichten».) (Papierzeitungs-Leserbrief ist notgedrungen schon immer reflektierter.) ¶

 

Erkenntnis ist dauerhaft (wird revidiert, ausgebildet, verbessert, weiterentwickelt etc.); Zeitung, Fernsehen, Internet-Foren etc. sind per se nicht «erkenntnisfähig», weil sie kein Gedächtnis haben. ¶

 

Ich weiß mit Sicherheit, daß ich bereits als Kind in konkreten Situationen die Erfahrung gemacht habe, daß es für ästhetisch befriedigende «Szenen» keine Entsprechung in der Wirklichkeit gibt. Als Thema treibt es mich bis heute um. ¶

 

Die zwei Typen von Menschen: die, die immer an der Sache interessiert sind und sich freuen, wenn jemand anderes die Sache ebenfalls so oder ähnlich sieht (und sich auch grundsätzlich für die Sachen anderer Leute interessieren, weil die Art, wie der andere für die Sache spricht, immer auch interessant ist; er will nie Partei bilden); und jene, die die Sache unbedingt zur Fraktionsbildung brauchen. Alle, die die Sache nicht so sehen wie sie, sind die Feinde bzw. die Blödmänner. ¶

 

Die guten Autoren (im weitesten Sinne, nicht nur meine Favoriten) sind nicht massenmedienkompatibel; selbst Publikumsliebling Max Goldt erscheint auf der Bestsellerliste nur ganz ausnahmsweise auf den untern Top-50-Rängen; man denke auch an Ulrich Holbein, Eugen Egner sowieso, auch Eckhard Henscheid. Robert Gernhardt wirkte bei seinem Erstauftritt bei Harald Schmidt wie ein Fremdkörper (und Schmidt wirkte in seiner eigenen Sendung plötzlich wie fehl am Platze, als er sich ernsthaft als Gernhardt-Verehrer outen wollte). ¶

 

Möglichst würdig unser unbedeutendes Leben (für das es keine Bedeutung gibt) führen, das heißt im Grunde: unbemerkt, unerkannt. Jedes Ruhmbedürfnis ist falsch. ¶

 

Läppische Wahrheit: Antisemitismus / Rassismus ist ohne antisemitische / rassistische Terminologie undenkbar, wird also erst durch Sprache (das hetzende Gerede, Propaganda, ideologische Unterfütterung) möglich. Dem Faschismus widerstehen heißt vor allem, der Sprache des Faschismus zu widerstehen. Ohne Hitler-Diktion wären die Nazi-Verbrechen nicht möglich gewesen; und Hitlers Sprache ist nicht bloß die («werbewirksame», propagandistische) Einkleidung von etwas Anderem, nicht so Gemeintem. «Die Juden sind unser Unglück» funktioniert nur so – als die Lüge, die sie ist. ¶

 

Einfühlung in den anderen. (Vielleicht schon der ganze Trick. Aber ob man das lernen oder lehren kann?) ¶

 

Prämisse: Nie jemanden entmutigen (durch selbstherrliche Kritik, Ungeduld, Verächtlichmachung), jeden im Rahmen seiner Möglichkeiten «stärken» (heißt: ihm Handlungsspielraum geben). (Klingt hingeschrieben billig, ist aber ein weitreichender Gedanke.) ¶

 

Alles eine Frage der Beleuchtung. (Der bestaussehende Star kann sehr, sehr schlecht aussehen. Wird auch oft in Filmen thematisiert und wiederum effektvoll in Szene gesetzt.) ¶