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Jeder freut sich, wenn er dramatisieren kann. Empörtes Kopfschütteln, Augenverdrehen, spannungssteigernde Kunstpausen, mit einem gedehnten «Uuuuund» als Pausenfüller. Daher auch die Beliebtheit von Krankheiten, auch von Alkoholexzessen und Schwangerschaften: die Schwangere als Heldin in einem Schicksalsdrama. ¶

 

Die Frage, ob ein Tier eine Seele hat, ist etwa so sinnvoll wie die, ob es einen allmächtigen Gott gibt. Die Frage ist, was wollen wir unter Seele verstehen. Und wenn wir das definiert haben, haben wir es entweder so definiert, daß es auch einem Tier «angehört» oder eben nicht. ¶

 

Genies werden nie verkannt, Menschen immer. ¶

 

Ich kann nie wissen, wie ich auf andere wirke. Niemand denkt das von mir, was ich von mir denke. ¶

 

Die im Grunde schlichte Tatsache, daß «Denken» im eigentlichen Sinne ohne Leidenschaft nicht möglich ist, ist mir erst bei der Lektüre von Byung-Chul Hans ‹Agonie›-Buch aufgegangen: Wenn wir Philosophisches lesen – bei allem rationalen Erkenntniswunsch muß die Lektüre doch immer begeistern, berauschen, beleben. Für mich gilt das jedenfalls. Wenn ein Text das nicht tut, kann ich ihn nicht lesen, nicht mal um ihn schlecht zu finden. Philosophie als «Verführung» (Sokrates als Verführer). ¶

 

Oft, wenn mir ein neuer Gedanke einleuchtet, finde ich ihn plötzlich «überall» (Paranoia!). Bei Goethe bzw. bei Nietzsche, der ihn im Vorwort zu seinem ‹Nutzen und Nachteil der Historie› zitiert: «Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben.» ¶

 

Immer wieder: Die eigentliche Natur des Menschen ist die Kultur. Die Künstlichkeit der Kultur ist das natürliche Biotop des Menschen. Es gilt das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit à la Plessner. Es gibt keine ursprüngliche Natürlichkeit des Menschen, nur eines undenkbaren Vor-Menschen. ¶

 

Schweigen, nicht um sich wichtig oder geheimnisvoll zu machen, sondern weil man aus Erfahrung weiß, daß das, was man wirklich sagen will, sich nur in seltenen Ausnahmemomenten mitteilen läßt. Man wartet immer auf den richtigen Moment. ¶

 

Subbotniks: freie Arbeitstage zur freien Bildung (bei Laborit). ¶

 

Das Problem ist, daß wir alle erwachsen werden müssen. Vielen Leuten fällt das unendlich schwer; die meisten sehen nicht einmal, daß es da ein Problem gibt. ¶

 

Jede verabsolutierte Aussage muß zur Unwahrheit werden. ¶

 

Der Traum: Nicht fürs Geld arbeiten zu müssen. ¶

 

Die Volksgemeinschaft wurde zur Zeit der Nazis «mühsam» durchs Radio hergestellt. Heute ganz selbstverständlich durchs Fernsehen. ¶

 

Kitsch ist immer Unvermögen (Fehlerhaftigkeit) bzw. Unlauterkeit (Etikettenschwindel). (Wäre zu überprüfen, ob R. Pilcher in sich vielleicht sogar stimmig ist.) ¶

 

In dubio pro dubio. ¶

 

Was geht in den Menschen vor, wenn sie glauben und erwarten, daß die deutsche National-Elf, nachdem sie in ihrem ersten Spiel bei der WM 2014 sehr gut gespielt hat, beim nächsten Mal genauso (gut) spielen wird? Die Erwartung setzt ein Denken (die Meinung) voraus, daß die National-Elf «gut ist» – statt korrekt zu sagen/denken, daß sie zuletzt «gut gespielt» hat. Das Gefühl habe ich natürlich auch; es ist dasselbe Gefühl, das uns denken läßt, daß die uns umgebende Realität stabil sei, daß wir uns selbst immer gleich sind etc.

 

Aber dieses Gefühl hält dem skeptischen Denken ja nicht eine Sekunde stand. Wenn man den Menschen als lebendes System betrachtet, weiß man, daß dieser Mensch in jedem Moment ganz unvorhersehbar ist. Ein lebendes System ist bestrebt, ein Gleichgewicht von Innen und Außen aufrechtzuerhalten (das streng genommen eben kein Gleichgewicht ist – sonst müßte keine Anstrengung unternommen werden, es «aufrechtzuerhalten»), und das geht gerade nicht, indem es sich sturheil «gleich» bleibt.

 

Wenn man eine Fußballmannschaft als ein aus lebenden Systemen bestehendes lebendes System betrachtet, potenziert sich die Unvorhersehbarkeit (die Zahl der notwendigen Entscheidungen, um das «Gleichgewicht» aufrechtzuerhalten/herzustellen) natürlich erheblich. Erst recht, wenn das aus lebenden Systemen bestehende lebende System auf unterschiedliche solcher lebender Systeme trifft.

 

Man kann da bestimmt mathematische Potenzzahlen anführen. Man kann aber auch einfach konstatieren, daß die Deutschen gegen die favorisierten Portugiesen 4:0 gespielt haben und gegen den Außenseiter Ghana 2:2.

 

Daß bloße sich (räumliche) Orientieren in der Welt verdient (nach Mauthner) nicht, Denken genannt zu werden. Sonst würde auch die Qualle bei jeder Kursänderung immer erst «denken». Tatsächlich gehört das, was wir für gewöhnlich «Denken» nennen, in die Sphäre der Beobachtung. Es entsteht erst zwischen «Gleichgesinnten», nie im einzelnen Wesen. Es denkt in mir – und was da denkt, sind nicht zuletzt all die Menschen, von denen ich die Sprache ererbt habe. ¶

 

Im Sinne Mauthners könnte man vielleicht sagen: Die Sprache ist alles, was wir haben, aber sie ist nicht alles. ¶

 

Jeder literarische Massenerfolg ist ein Mißverständnis. Der Erfolg des Schmökers ‹Herr der Ringe› ebenso wie der massenhafte Verkauf von Kafka. (Kafka wurde zu keiner Zeit besser verstanden und richtiger in der literarischen Welt gewürdigt als zu Lebzeiten.) ¶

 

Die Herdersche Vorstellung, der Mensch habe sich selbst die Sprache gegeben, krankt an der alten Unmöglichkeit, sich dort einen Ursprung vorzustellen, wo wir keinen Ursprung denken können. Man müßte sich einen ersten, sprachlosen Menschen vorstellen, der sich «vornimmt», «Sprache» zu erfinden – für den «Gedanken» sowie die Tat bräuchte er aber bereits die Sprache (er müßte schon vorher «um die Sprache wissen» sozusagen). Eher schon glauben wir uns einen allmählichen Übergang vorstellen zu können – aber das verlagert nur das Problem und schafft es nicht aus der Welt. Wenn ich mir vorstelle, daß sich die menschliche Sprache aus den tierischen Lauten entwickelt hat (was offensichtlich so ist), werde ich wieder den Punkt nicht finden, wo noch als Tier gegrunzt und wo schon als Mensch gebrabbelt wurde. Das gleiche gilt natürlich, wenn ich den Beginn einer Tiersprache festmachen wollte. ¶

 

Nun bleiben aber Hunger, Liebe, Eitelkeit – diese drei. (Nach Mauthner.) ¶

 

Nach Hamann ist nicht nur der Mensch ganz und gar Sprache, sondern auch die Welt – es gibt keinen Gegensatz von sprachlicher Menschenwelt und «Natur». Das ist gut! Denn mit unserer Sprache ist tatsächlich die ganze Welt versprachlicht – zwar nur «für uns», aber dieses «zwar» ist schon ein Gedankenfehler, denn es gibt keine andere Perspektive als «unsere». (Wir können uns den Menschen nicht aus der Welt wegdenken, er bleibt bei diesem Gedankenexperiment immer als Betrachter, als «Auge», vorhanden.) ¶

 

Es ist unsere Bestimmung und schwere Aufgabe, erwachsen zu werden, Individuum zu werden. D. h. uns als Individuum bewußt zu werden. Wir waren schon mal Individuum – als Kind, in der Familie (wenn die Familie «intakt» war). Wir waren uns dessen aber nicht bewußt. Mit dem Bewußtsein, Individuum zu sein, geht das beängstigende Gefühl der Einsamkeit einher. Das ist der traumhafte Zustand der Kindheit (in einer «intakten» Familie), Individuum sein zu können, ohne einsam zu sein. Die Pubertät – die zweite und mittlere Phase unseres Lebenswerdegangs – ist wesentlich Gemeinschaftserlebnis. Hier wird mit Individualität nur spielerischer Umgang gepflegt. Selbst der Außenseiter muß sich nicht zwangsläufig einsam fühlen; an unsichtbaren Fäden nimmt er in aller Regel an der pubertären Gemeinschaft teil. Wenn man heute von der Infantilisierung der Gesellschaft spricht, wäre es richtiger, von «ewiger Pubertät» zu sprechen. ¶

 

Der Mensch steht nicht auf dem Boden der Vernunft, sondern er schwebt über dem Abgrund der Psyche. (Was vernünftig ist, bestimmen jeweils unberechenbare Individuen.) ¶

 

Alles Große, Wichtige, Richtige, Gute ist unvermeidlich immer begleitet vom Kleinen, Banalen, Unwürdigen, Dummen. – Daraus folgt zweierlei: 1.) Weil es unvermeidlich immer so ist, kann das «Wichtige, Richtige» nicht durchs «Banale, Dumme» diskreditiert werden (weil die «sexuelle Revolution» mit einer antiaufklärerischen Pornographisierung des Alltags z. B. in Form von sexistischer Werbung einherging, ist sie nicht «falsch» gewesen). 2.) Wir müssen nicht dem Ideal (das frei wäre von seinen banalen Begleiterscheinungen) hinterherlaufen; es liegt immer in gleicher Entfernung als unerreichbarer Horizont vor uns. ¶

 

Jede wörtliche Wiederholung ist eine Erstarrung des vormals lebendigen Denkens. ¶

 

Harald Schmidt, die Heute Show, Böhmermann etc. – eine Weile gut, aber auf Dauer nicht zu ertragen. Weil da eben nur Fernsehen fürs Fernsehen gemacht wird. ¶

 

Unser Denken (im emphatischen Sinne) ist wie Luftanhalten. Wir müssen nach einer Weile wieder atmen – heißt: unseren Trieben entsprechend agieren bzw. den Umständen entsprechend reagieren. Das Denken des höher entwickelten Tieres erfolgt hingegen ganz organisch zwischen zwei Atemzügen. Man hat einigen klugen Affen beigebracht, auch mal die Luft anzuhalten, die Übung hat ihnen aber, wie man hört, nicht sonderlich eingeleuchtet. ¶

 

Viele Köche verderben den Brei nur, wenn jeder glaubt, er wäre allein verantwortlich. ¶