Blatt 10

 

 

Man muß dran glauben! Auch der Glaube an Vernunft und Aufklärung ist ein Glaube. Also etwas Irrationales.

 

Man kann sich den Tod durchaus als bloße räumliche Trennung vorstellen. N. N. lebt nicht mehr hier. Wir haben keinen Kontakt mehr. Hätten wir uns überworfen und er wäre noch am Leben auf einer fernen Insel und ich hier – was wäre der Unterschied?

 

Ich hätte immer behauptet, ich brauche den Unsterblichkeitsgedanken nicht. Ich glaube an keine unsterbliche Seele, sondern an die vollständige Vernichtung meiner Person mit dem Tod. Aber ich betrachte alle möglichen toten Dichter und Denker als unsterblich und als meine geistigen Zeitgenossen. Ich habe das Gefühl, nicht nur kluge Texte zu lesen, wenn ich Rank oder Hocart lese, sondern ich habe das Gefühl, die sprechen «in Person» zu mir. (Dasselbe gilt für Musik.) ¶

 

Wenn ein Buch anfängt mit den Worten: «Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn», ist das Buch  – obwohl mich das Thema interessiert – leider sofort unlesbar für mich. ¶

 

Die Aufforderung, im Hier und Jetzt zu leben, klingt gut, aber keiner will sterben, will also ewig leben. Das beißt sich, oder? Wer ewig leben will, sorgt vor, und schon ist er drin in der Mühle. ¶

 

Die Frage: «Glaubst du an Gott?», kann sich der Agnostiker übersetzen in die Doppelfrage: «Hast du genug Selbstvertrauen, um nicht depressiv zu werden?», und: «Hast du genug Vertrauen in die Menschheit, um deinen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten? Um deinen ‹Nächsten› zu ‹lieben›?» (Gottvertrauen als Menschenvertrauen.) ¶

 

Wir sind in der größten Vereinsamung immer als gesellschaftliche Wesen vereinsamt. Daher vielleicht das religiöse Gefühl: Ein himmlischer Vater sieht mich. ¶

 

Die Kontrolle des Lebens durchs Ritual ist das große Thema von A. M. Hocart: Einst waren es Beschwörungsformeln und magische Gegenstände, die zum Einsatz kamen, heute sind es Wissenschaft und Technik, an deren Wunderkraft wir glauben. Immer haben wir das (magische) Gefühl der Kontrolle – wider besseres Wissen. ¶

 

Meine Götter heißen: Aufklärung, Vernunft, Fortschritt. Auch wenn ich um das Menschengemachte all unserer Götter weiß, glaube ich doch (oder lebe danach) an eine (unendlich langsame) fortschreitende Aufklärung – die am Ende scheitern kann. Was wiederum ein «heroisches» Modell ist – das mein Verstand auch ablehnen müßte.

 

Bei Mauthner: Sprache – immer nur «Bilder von Bildern von Bildern». Dürfte Vilém Flusser wohl auch unterschrieben haben. ¶

 

Dem heutigen Christentum vorzuwerfen, es sei ja bloß umgedeutetes, verbogenes (verwässertes) Christentum, ist lächerlich. Wir leben immer nur im Zustand einer jeweils aktuellen Deutung. Die Geschichte der Französischen Revolution ist ihr Deutungsprozeß. «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» muß ich mir natürlich «hinbiegen», denn die Schwestern sollen ja wohl auch gemeint sein. ¶

 

Lauter Archimedische Punkte! Die Welt muß sich im Schwebezustand dauernden Ausgehebeltseins befinden. ¶

 

Unsere aktuellen Beschwörungsrituale sind: Krebsvorsorge, Riesterrente, Fitness. ¶

 

Natürlich kommen in unserem Alltag magische Gegenstände nicht nur hier und da vor, sondern wir umgeben uns gezielt mit ihnen. Ein iPhone ist nicht nur eine hochwertiges Telefon, sondern Fetisch, ein Kultgegenstand, der für ein Glück-, ja, Heilsversprechen steht. Markenartikel insgesamt. Aber auch «schöne Bücher» und Kunstgegenstände aller Art. Und: ihr Besitz ist wichtig, das bloße Vorhandensein genügt nicht. ¶

 

«Wo Es war soll Ich werden», toller Satz. Und dann geht es so weiter: «Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.» In seinen höchsten Gedanken hat Freud immer mechanisch, technisch, gleichsam industriell gedacht. Wer von der Kunst «herkommt», wird wohl immer auf der Bewahrung des «Geheimnisses» bestehen: Der höchste Ausdruck des Ichs findet im Kunstwerk / Lebenswerk statt – ist aber keine bloße Arbeitsleistung. ¶

 

Lampenfieber: die Angst, vor die Leute hinzutreten. Oder anders: sich als Ich-Individuum in Opposition zur Wir-Gemeinschaft zu bringen. Es ist ein Schuldgefühl (Verrat am Wir) – das uns nach Rank aber gerade mit den Menschen verbindet. Wer dieses Schuldgefühl (Individuum zu sein) nicht empfindet, hat sich erst von der Gemeinschaft gelöst: der Tyrann etwa oder der psychopathische Mörder. ¶

 

Sinn des Lebens? Wer einen hat, muß sich die Frage nicht stellen. Er / sie fühlt sich ganz einfach mit den Menschen verbunden. Wem das Leben sinnlos erscheint, dem ist diese ganz natürliche Verbundenheit abhanden gekommen. Die Folge ist die Depression (Mutlosigkeit, Handlungsunfähigkeit). Das Ganze hat nichts mit «Sinn» (Argumentation, Begründung) zu tun, sondern ist nur (aber was heißt «nur») ein Gefühl. ¶

 

Was die Sprachakt-Theorie erst umständlich «neu» entdecken mußte, daß durchs Sprechen nicht einfach konstatiert wird, was ist, sondern geschaffen wird, was vorher nicht war, was sein soll – das hat Hocart bereits als wesentlich fürs Ritual beschrieben, das wiederum nach Hocart am Anfang alles Gesellschaftlichen steht. ¶

 

Wir leben nie im rein Faktischen, sondern sind eingebettet in die Sphäre des Psychischen und überragt von der Sphäre des Imaginären. (Die Sphären konkret als Kugeln gedacht.) Das Psychische äußert sich vor allem durch unsere animalischen Triebe, das Imaginäre vor allem in der Sprache. ¶

 

Auch die Evolution ist ein Glaube, wie jede zur Gewißheit erstarrte wissenschaftliche Theorie. Zugegeben, die Bekehrung fiel nicht leicht, mußte man doch akzeptieren, etwas peinliche Vorfahren zu haben. Dafür wurde man mit der schönen (jetzt auf wissenschaftliche Füße gestellten) Heilslehre entschädigt, daß all diese «Entwicklung» (Evolution) darauf hinausläuft, daß am Ende wir als die Herren der Welt dastehen.  (Wie die Damen ins Bild passen, war zunächst nicht von Interesse.) ¶

 

Der aktuelle Mythos ist immer die aktuelle Theorie. Auf die Theorie «Schöpfung» folgte die Theorie «Evolution», die nicht «falsch» ist im Sinne radikaler Kreationisten, aber von den allermeisten falsch verstanden wird – als «Fortschritt» mit dem großen optimalen Zielpunkt «Mensch». Beide haben ihr Richtiges. Der biblische Mythos weiß, daß alles Schöpfung ist (Menschenschöpfung), der neue Mythos, daß alles historisch ist. ¶

 

Verweigerung des Kampfes (à la Rank vs. Freud) = Lob der Flucht (à la Laborit). Ausweichmanöver ins Imaginäre. ¶

 

Sobald man den Fernseher einschaltet, verliert man sich (in der Fernsehwelt). Man ist nicht mehr bei sich selbst. Das ist die große Entlastungsfunktion des Fernsehens. Man gibt die Verantwortung für das Selbst ab. ¶

 

Namen sind Schall und Rauch? Von wegen! Wir leben noch immer in einer mythischen Welt, haben das magische Bewußtsein nicht hinter uns gelassen. Wir glauben nicht mehr an den Schöpfermythos; wir erzählen uns andere Weltbegründungsgeschichten. Das Entscheidende ist, daß wir ebenso wie die «Primitiven» in der Sprache leben, die sich immer ihre abstrakten Götter, Mächte, Kräfte schafft. ¶

 

Facebook gibt uns das Gefühl, praktisch pausenlos was zu verkünden zu haben. Die Musik, die ich gerade höre, wird verlautbarungswürdig: Seht her, welch erlesener Musikgeschmack! Das Ziel müßte aber sein, möglichst «für sich» sein zu können. ¶

 

Man kann mit einem Gläubigen nicht über den Glauben reden, weil er seinen Glauben für eine unumstößliche, ewige Wahrheit hält. Wir machen aber mit jedem unserer Worte klar, daß wir den Glauben für historisch halten, eine veraltete «Wissenschaftstheorie«, für Tradition, die veränderlich ist. Das ist unsere unumstößliche Wahrheit. Wir sind also nicht weniger fundamentalistisch. Wollen wir miteinander reden, müssen wir über anderes reden. Am besten tut man was miteinander. Bei Theodor Lessing sinngemäß: Die kompliziertesten Fragen der Menschheit werden nicht irgendwann beantwortet, sondern die Fragestellung wird obsolet. (Im Mittelalter wurde ernsthaft erörtert, wie viele Seelen auf einer Nadelspitze Platz haben). ¶

 

Wollen ist das Müssen, das man akzeptiert hat, das man akzeptieren kann. ¶

 

In ästhetischen Dingen gilt nicht anders als in der Warenwelt ein unerbittliches «variatio delectat». ¶

 

Soziale Medien: Man möchte so gern verbunden und aufgehoben sein, so wie man als Kind in der Familie aufgehoben war. Die Eltern sollen einen in Ruhe lassen, aber man fühlt sich sicher. ¶

 

Der Mensch schafft Einheiten und damit Wesenheiten, deren bloße sprachliche Existenz immer und zwangsläufig ein Eigenleben zu führen beginnt: Das Jahr 2016  – war es gut, war es schlecht? – Es gibt kein «Jahr 2016». Nur einzelne Ereignisse, die wir in einem bestimmten Zeitraum beobachten konnten. Sowohl die Auswahl der Ereignisse als auch der «Beobachtungszeitraum» ist dabei völlig willkürlich (am 1. 1. war kein Anfang, am 31. 12. kein Ende). Wir konstruieren erst mit der Fragestellung die fiktive Einheit eines Jahres 2016, das angeblich individuelle Eigenschaften, gleichsam einen Charakter, also ein Wesen hat. ¶

 

So wie wir glauben, daß das Jahr 2016 eine reale Einheit, Wesenheit, ist, so glauben wir an Wesenheiten, die zeitlos zu existieren scheinen, nur weil wir einen Namen für sie haben. Das macht die Sprache mit uns: Sie läßt Wesen, Kräfte, Seelen, Götter Wirklichkeit werden. ¶

 

Zu sagen, daß es einen Gott geben muß, weil sonst das Ganze (Universum, Welt, Leben) sinnlos sei, oder zu sagen: das Ganze ist sinnlos, denn natürlich gibt es keinen Gott (nur damit wir einen Sinn «haben») – ist im Grunde ein- und dieselbe Seh- und Denkweise. Beide Sichtweisen behaupten, das Wesen des Ganzen in den Blick nehmen zu können. Einmal wird es positiv besetzt, einmal negativ (und letzteres geschieht nie nur «neutral»). Wie sehr beide Sichtweisen verwandt sind, zeigt sich im jüdischen Glauben, wo gilt, daß man sich vom höchsten Wesen kein Bild machen solle bzw. nicht kann – was ja auch die zweite Sichtweisen als Argument ins Feld führt. ¶

 

Die Befreiung vom Sinnzwang wäre eine Abkehr von dem Bedürfnis nach einem höchsten oder nach jedem sonstigen «Wesen». ¶

 

Wenn man im Haus das Licht ausmacht, wenn man einen Raum verläßt, macht man das aufgrund einer rationalen Überlegung (Energiesparen) oder aufgrund eines irrationalen Schuldempfindens? Wenn ich drüber nachdenke: letzteres. ¶

 

Wir können nicht ohne Illusionen leben. Sehr richtig. Wir können aber auch nicht ohne die Desillusionierung leben. Unser forschender Verstand will ja immer hinter die Kulissen kucken. Eine eigenständige Möglichkeit neben dem konservativen Beharren auf dem schönen Schein und der destruktiven Kritik: lustvolle Desillusionierung im Humor. ¶

 

Natürlich hat noch nie die Todesstrafe ein zukünftiges Verbrechen verhindert. Die Hinrichtung dient immer nur dem Bedürfnis der Hinrichtenden. Wie bei den «Primitiven» wird Leben geopfert, um (das eigene) Leben zu erhalten. ¶

 

Den Träger der Fackel der Vernunft sollten wir uns nicht als Staffelläufer vorstellen, sondern als Höhlenforscher. ¶

 

Mantra: Und morgen sind wir alle tot. ¶

 

Es kann nicht Aufgabe der Menschen sein, die Welt zu retten (die Kakerlake verdreht die Augen!), es kann nur die Aufgabe der Menschen sein, den Menschen zu retten. ¶

 

Immer auf der Suche nach einer verborgenen Wahrheit / Realität: Schamanen (Geister), Theologen (Geist), Philosophen (Ding an sich), Psychologen (Seele, Unbewußtes). Nur die Künstler sind so ehrlich zu sagen: Wir suchen sie nicht, wir erfinden sie. ¶

 

Die einzige verborgene Wahrheit, das eigentliche Mysterium, ist allein der Mensch, der denkt. Der denkt, daß er denkt. Und der denkt, daß dieses Denken ein Durchdringen, Ergründen, Erkennen ist. Der Mensch denkt «Erkenntnis» und «Durchdringen» und begreift doch, daß er nichts «durchdringt», denn nur das Wort schafft das Mysterium. Der Mensch, der denkt, denkt nicht nur, daß er denkt – er kann auch noch ebendies denken und einsehen, daß er in einer Kreisbewegung gefangen ist. Am Anfang des Problems war das Wort, und das Wort war beim Menschen, und der Mensch ist dieses Wort. ¶

 

Wir sprechen, denken immer in Sätzen, nie in vereinzelten Worten. Jede gedankliche Sinneinheit besteht aus Subjekt-Prädikat-Objekt, nie bloß aus Nomen, Verben etc. Subjekt plus Prädikat bedeutet gewissermaßen: ein Etwas (Nomen) plus «Erfahrung» (durch die allein das Etwas sich auszeichnet, für uns). Es gibt kein Etwas, das wir beim Namen nennen könnten, ohne Erfahrung, jenseits von Erfahrung. Die Idee der platonischen Wesenheiten, die unabhängig von unserer Erfahrung existieren, ist poetische Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse. Und daß wir immer in Subjekt-Prädikat-(Objekt)-Gefügen denken, bedeutet natürlich nicht, daß unser Gehirn grammatisch ist, sondern umgekehrt: Unsere (immer erst nachträglich konstruierte) Grammatik ist angepaßt an dieses relationale Denken. ¶

 

Daraus folgt aber auch: Es gibt kein vereinzeltes Nomen (kein Nomen ohne Prädikat). Das, was wir Nomen nennen, ist eine künstliche Extraktion eines Subjekts  / Objekts aus seinem Sinnzusammenhang. Zwar sagt der Mythos, daß alles damit begann, daß der Geist den Dingen Namen gab, aber auch hier ist poetische Umkehrung oder Verkürzung am Werk. Der Name hat für den Menschen nur Bedeutung, wenn er mit einer Eigenschaft (einem Prädikat) versehen ist, und die Eigenschaft muß erfahren, erlebt worden sein. ¶

 

Ein Satz bedeutet: Nichts steht vereinzelt da, sondern ist immer Teil einer Relation. Sie erst ergibt unseren Sinn. Wie wir auch nicht in einzelnen Buchstaben sprechen. ¶

 

Warum geht die Natur Umwege? Warum braucht die starre Blüte zur Fortpflanzung die bewegliche Biene? Es ist leicht einzusehen, daß von «Umweg» zu sprechen, ein Anthropomorphismus ist. Wir glauben, ein Ziel ausgemacht zu haben (Bestäubung, Fortpflanzung, Arterhaltung), konstatieren mit unserem pragmatischen Ingenieursbewußtsein aber zugleich, daß man das Ziel doch auch einfacher hätte haben können ... Es ist die alte Spiegelfechterei. Selbst noch, wenn man sagt: Der Umweg ist kein Umweg, bloß Weg. All das ist menschliches Zweckdenken, für das es offensichtlich in der Natur keine Entsprechung gibt. Was aber beobachten wir, wenn wir keinen Umweg beobachten? Die Metamorphose des Herkuleskäfers von der winzigen Larve zum unterarmgroßen Ungetüm wirkt – im Film im Zeitraffer betrachtet – wie von H. R. Giger zu spannung- und ekelsteigernden Zwecken erfunden, aber von Mutter Natur? ¶

 

So wie die Psychoanalytiker vom Neurotiker und seinem «Fehlverhalten» etwas über die Psyche lernen und nicht vom gesunden, gut angepaßten Durchschnittstyp, so lerne ich von den Kitsch-Romanen, die ich zuhauf lektoriere und die im Grunde nie funktionieren, wie Romane funktionieren.

 

Der Egomane ist immer ein schlechter Menschenkenner, weil er nur sich kennt.

 

Die Tatsache, daß E. Henscheid irgendwann (in seinen «besten Jahren» sozusagen) aufgehört hat mit der Kunstproduktion, könnte Ranks Jugendthese stützen, daß die Illusion «Kunst», so wichtig sie uns ist, nur ein «Durchgangsstadium» ist.

 

Was uns am Fremden, dem Ausländer, Muslim, Farbigen, Angst macht, ist das Fremde, das uns in jedem Menschen entgegentritt, das Undurchschaubare, Unsichtbare, Verborgene im Anderen. Jetzt tritt das Fremde, das Andere, nur gleichsam äußerlich sichtbar zutage. (Ich habe in aller Regel sehr wenig Angst vor den Menschen, wohl weil mich das Verborgene im Anderen immer interessiert. Aber als das Verborgene, Geheime, nicht als etwas zu Enthüllendes.) ¶

 

In ihrer Angst vor «dem Islam» trauen westliche, christliche Menschen «dem Islam» exakt die außerirdische Wunderwirkung zu, wie dies gläubige Muslime tun. Abstraktionsgläubige unter sich. ¶

 

Perspektivische Verzerrung: Was ich für einen weiblichen nackten Schenkel in einem weißen Minirock auf der gegenüberliegenden Straßenseite angesehen habe, entpuppt sich als männlicher nackter Arm in einem weißen T-Shirt-Ärmel auf dieser Straßenseite. ¶

 

Gedanke bei Vaihinger (auch bei Hocart, dort anders begründet) – daß die Menschheit seit jeher mit falschen Theorien zu richtigen Schlußfolgerungen gelangt: Die falsche Theorie des «Miasmas» (als man noch nichts von Bakterien und Viren wußte) führte zur richtigen Therapie (Quarantäne).

 

Das Paradox als äußerste Form der Erkenntnis. Der Scherz als lebendiges Paradox. ¶

 

Freud: Die Sublimation kann nie den eigentlichen (unbewußten) Wunsch befriedigen. Klingt einleuchtend. Aber dann doch nicht: Wir wissen ja gar nicht, was es hieße, unsere Bedürfnisse «wirklich» zu befriedigen bzw. es ist klar, daß das der krankhafte Größenwahn wäre, die Allmachtsphantasie des Psychopathen. Wir haben «nur» unsere Sublimation, aber wir nutzen sie, um die biologischen Bedürfnisse zu verlagern, ins Menschliche, Soziale. ¶

 

Das Gegenteil von Leben ist nicht der Tod, sondern die Depression. (Das «lebende Leben» bedeutet, handlungsfähig zu sein; die Depression lähmt uns, macht uns handlungsunfähig). ¶